08.07.2016

Workshop: Soziale Sicherheit - ein Menschenrecht? Schritte zu einer Bürgerrechtsbewegung gegen Armut

Von: Michael David (Diakonie)
Workshop: "Soziale Sicherheit - ein Menschenrecht? Schritte zu einer Bürgerrechtsbewegung gegen Armut" Foto: Stephanie von Becker

Workshop: "Soziale Sicherheit - ein Menschenrecht? Schritte zu einer Bürgerrechtsbewegung gegen Armut" Foto: Stephanie von Becker

Armut ist nicht nur eine Frage von Ungerechtigkeit und sozialer Ungleichheit. Die Sicherung der sozialen Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben hat einen menschenrechtlichen Charakter. Grundlegende soziale Rechte werden beschrieben in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem UN-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, der Europäischen Sozialcharta und der auf dem Grundgesetz aufbauenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. Es steht nicht im Belieben politischer Akteure, ob sie für ein menschenwürdiges Existenzminimum und eine verlässliche soziale Sicherung sorgen wollen. Ein wachsender Teil der Bevölkerung ist sozial deklassiert und wird dauerhaft ausgegrenzt. Dies bedeutet eine eklatante Verletzung von Bürgerrechten. Im Workshop haben wir darüber diskutiert, wie Aktivist_innen für Menschenrechte, sozial Engagierte und Akteure aus der Betroffenenszene  bei der Begründung einer Bürgerrechtsbewegung gegen soziale Ausgrenzung zusammenwirken können.

Der Workshop gestaltete sich als offenes Gespräch zwischen Robert Trettin (Armutsnetzwerk), Claudia Mahler (Deutsches Institut für Menschenrechte) und Michael David (Diakonie Deutschland). Die Gesprächspartner_innen schilderten die menschenrechtliche Arbeit, die sie gemeinsam in der Nationalen Armutskonferenz leisten. Dabei geht es darum, Betroffene aus der Isolierung und Schuldzuschreibung heraus zu holen. Wir wollen Armut und soziale Ausgrenzung überwinden – das heißt: eine Stigmatisierung von in Armut Lebenden, die sich dann mit „Hilfeangeboten“ für vermeintlich passive Menschen verbinden, ist abzulehnen.

Die bestehende soziale Ungleichheit gilt in weiten Teilen der Öffentlichkeit als normal und als vermeintlicher Motor für wirtschaftliche Entwicklung. Die soziale Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen ist auch ein Druckmittel für andere, sich arbeitsmarktkonform und nicht widerständig zu verhalten. Darum wäre es paradox, davon auszugehen, dass man nur genügend Hilfe und Sozialarbeit anbieten müsste – und dann würden sich die Armutssituationen schon auflösen. Emanzipative Sozialarbeit sucht dagegen nach Möglichkeiten, Menschen darin zu unterstützen, ihren eigenen Weg zu gehen und politische Gegenöffentlichkeit zu mobilisieren. Selbstorganisation hat Ermutigung und Autonomie als Erfolgsmaßstab. Die im Sozialrecht vorherrschende Arbeitsmarktlogik – Arbeitsvermittlung um jeden Preis und mit jeglicher Zumutbarkeit – hat das Gegenteil zur Folge.

Soziale Rechte sind in der Öffentlichkeit wenig Thema. In Armut Lebenden wird die Schuld an ihrer Situation gegeben. Politische Akteure wollen Betroffene aktivieren, Nachbarn diskriminieren Sozialleistungsbeziehende und Medien fahnden nach faulen Erwerbslosen. So schildert eine Betroffene: „In meinem Haus wissen sie alle, dass ich arbeite. Aber es weiß keiner, dass ich Hartz IV bin. Und bin ich neulich abends noch mal weggelaufen mit der Aktentasche unterm Arm, weil ich Akten drin hatte, und die wollte ich nicht unbedingt in den Einkaufsbeutel tun. Und da kommt eine Frau aus dem Haus und sagt: „Oh, sie müssen wohl noch einmal weg“ Ich sag: „ja, ich muss noch mal weg. Ich bin ganz toll im Stress“  Und da sagt sie: „ so isses nun, die Leute, die Arbeit haben, können sich vor Arbeit nicht retten, und die Hartz-IV-Empfänger, die sitzen daheim und wissen vor purem Blödsinn nicht, was sie machen sollen.““

Diese Erfahrungen, die in der Studie „Bewährungsproben für die Unterschicht“ des Jenaer Soziologen Klaus Dörre geschildert werden, zeigen: Armut ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen und verfestigt sich immer weiter. Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamtes lebt ein Fünftel der Bevölkerung in Armut oder sozialer Ausgrenzung. Fast ein Drittel der Hartz-IV-Beziehenden war schon 2005 im Leistungsbezug. Die Bundesagentur für Arbeit berichtet: Im Dezember 2015 verblieben 2,58 Millionen von insgesamt 5,84 Millionen Leistungsbeziehenden in der Grundsicherung für Arbeitsuchende länger als 4 Jahre im Leistungsbezug. Weniger als 810.000 Personen waren nicht länger als 6 Monate im Grundsicherungsbezug. Die von Armut Betroffenen leben in verfestigten Armutsstrukturen.

Besonders betroffen von Armut und sozialer Ausgrenzung sind Alleinerziehende und Erwerbslose. Und: Jedes fünfte Kind in Deutschland ist arm. Drei Millionen Kinder erleben täglich, dass Kleidung, gesundes Essen oder Schulmaterial fehlt. Dabei ist nicht jede Erwerbsarbeit eine Lösung. Nach Untersuchungen des Instituts für Arbeit und Qualifizierung in Duisburg erhalten ein Fünftel der Beschäftigten Löhne, die auch in Vollzeitarbeit nicht zum Leben reichen. Der Mindestlohn ist zu niedrig, um Armutsrisiken abzuwenden. Für Langzeit-Leistungsbeziehende gilt er nicht. Diese pendeln zwischen Erwerbslosigkeit, prekärer Beschäftigung und prekärer Selbstständigkeit.

Der Aktivierungs-Diskurs verdeckt die tatsächlichen gesellschaftlichen Problemlagen. Wer Rechte hat, muss auch Recht bekommen. Die Vorurteils-Unkultur gegen von Armut Betroffene muss beendet werden. Die gesellschaftliche Beteiligung von Armutsbetroffenen ist zu sichern, - umfassende Kontrollen und Sanktionen gegen in Armut Lebende müssen abgeschafft werden. Ein Kernimpuls Sozialer Arbeit und sozialpolitischen Engagement muss sein, Betroffene bei der Durchsetzung ihrer Rechte zu unterstützen – und dabei, sich eigenständig und widerständig artikulieren zu können.

Dabei müssen wir vor Ort anfangen. Selbstbestimmte Stadtteilzentren, Sozialberatungsangebote ohne Druck und Entmündigung, offene Treffpunkte und Kommunikationsorte für in Armut Lebende sind wichtige Schritte dahin. Eine bundesweite Selbstorganisation und Interessenvertretung in Armut Lebender kann auf diese Initiativen vor Ort aufbauen und braucht sie, um sprachfähiger zu werden.

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