08.07.2016

Workshop: Armut im Überfluss: Warum funktionieren die Tafeln?

Von: Dr. Rudolf Martens
Workshop: "Armut im Überfluss: Warum funktionieren die Tafeln?" Foto: Stephanie von Becker

Workshop: "Armut im Überfluss: Warum funktionieren die Tafeln?" Foto: Stephanie von Becker

Der Moderator hat sich und seine Arbeit als Leiter der Paritätischen Forschungsstelle kurz vorgestellt. Anschließend Vorstellung von Herrn Jochen Brühl, der auf 20 Jahre Tafelerfahrung zurückblicken kann. Damit gehört er zum Urgestein bzw. zur ersten Generation der Tafelgründer. Er selbst ist Mitbegründer der Ludwigsburger Tafel und war dort 13 Jahre ehrenamtlicher Geschäftsführer. Die Ludwigsburger Tafel liegt nördlich von Stuttgart in einer sehr wohlhabenden Region, die zudem hohe Wachstumsraten und viele Zuzüge aufweist. Die Gegend ist zu reich für arme Menschen und benötigt gerade deswegen eine Tafel, so der Kommentar von Jochen Brühl.

Die Tafeln sind das schlechte Gewissen der Sozialpolitik, denn: Warum sind sie überhaupt notwendig und seit wann gibt es sie? Mit dieser Frage leitete die Moderation einen kurzen Abriss über die Geschichte der Tafeln und der gleichzeitig stattfindenden sozialen Umbrüche in Deutschland ein.

Die Tafeln sind eine der jüngsten sozialen Bewegungen in Deutschland. 1993 wurde die erste Tafel  in Berlin gegründet. Das Gründungsjahr und die Gründungsstadt sind dabei kein Zufall. Nach der Wiedervereinigung und nach den wirtschaftlichen Umbrüchen in den neuen Bundesländern sind die Armutsquoten dort in die Höhe geschossen und übertrafen damals die westlichen Armutsquoten um das Doppelte. Zugleich wurden sehr viele Menschen in der ehemaligen DDR obdachlos. In den sechziger Jahren wurde die Obdachlosigkeit von Personen in der DDR beseitigt, indem solche Personen in Alten-, Pflege- oder Behinderteneinrichtungen eingewiesen wurden. Bei der Umstrukturierung der Sozialeinrichtungen in der ehemaligen DDR wurden viele dieser Menschen obdachlos.

Die Berliner Sozialverwaltung sah sich im Winter 1992/93 vor dem Problem, kurzfristig über 10.000 obdachlose Personen versorgen zu müssen. Eine  „Initiativgruppe  Berliner Frauen“ hat diese Problem aufgegriffen und eine Idee, die ursprünglich aus New York stammte, umgesetzt. Überschüssige Lebensmittel werden eingesammelt und dann an Obdachlose bzw. Obdachloseneinrichtungen verteilt. Diese „Initiativgruppe Berliner Frauen“  hat dafür auch den schönen Namen „Tafel“ gefunden. Der ersten Tafelgründung 2003 in Berlin folgten weitere in westdeutschen Großstädten und im Jahr 2000 gab es bereits 270 Tafeln in Deutschland, 2005 fast 500, 2010 knapp 900 und aktuell über 900 Tafeln.

Die erste Tafelgründergeneration hatte das Ziel, obdachlosen Menschen zu helfen. Anfang der neunziger Jahre schossen in den neuen Bundesländern die Arbeitslosenzahlen in die Höhe, gleichzeitig entwickelte sich in West- wie Ostdeutschland eine Langzeitarbeitslosigkeit, die mit einigen Schwankungen bis jetzt fortbesteht. Parallel dazu wird es immer schwieriger für untere Einkommensschichten aufzusteigen. Des Weiteren nimmt die Einkommensungleichheit tendenziell zu und die relative Einkommensarmut steigt von Anfang der neunziger Jahre bis Mitte der Nullerjahre kontinuierlich an. In diese Zeit fallen auch eine Reihe von Rentenreformen, die zu einer faktischen Absenkung des Rentenniveaus geführt haben. Auf dem Arbeitsmarkt werden prekäre Beschäftigungswelten möglich, die überwiegend mit einer geringen Bezahlung verbunden sind. Die Sozialhilfe und seit 2005 die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe waren verbunden mit einer Höhe des Existenzminimums, das nicht bedarfsdeckend ist. Insbesondere ist das Existenzminimum bzw. der Regelsatz plus Wohnkosten nicht bedarfsdeckend für Personen und Haushalte die jahrelang davon leben müssen.

Parallel zu den geschilderten sozialpolitischen Umbrüchen ist die Anzahl der Tafeln immer weiter gewachsen. Inzwischen spielt die ursprüngliche Klientel, obdachlose Menschen, praktisch keine Rolle mehr. Langzeitbezieher von Existenzminimumleistungen (Hartz IV, Sozialhilfe und Grundsicherung im Alter) und Wohngeld prägen das Bild aktuell. Kurz gesagt, die sozialpolitische Entwicklung in Deutschland hat einen hohen Bedarf an Tafelleistungen erzeugt. Insofern sind die Tafeln ein sichtbares Zeichen für die sozialen Fehlentwicklungen in Deutschland.

Herr Brühl betonte gleich zu Anfang, dass die Tafeln Menschen unterstützen aber nicht versorgen können, Tafelleistungen sind bestenfalls für zehn Prozent der armen Bevölkerung erreichbar, regelmäßig kämen 1,5 Millionen Personen zu den Tafeln. Inzwischen werden auch eine viertel Millionen Flüchtlinge unterstützt. Dabei hätten die Tafeln erreicht, dass sich drei bis vier Prozent dieser Flüchtlinge bei den Tafeln als Ehrenamtliche engagieren.

Herr Brühl betonte die Ambivalenz, die in der Tafelarbeit liegt („Hilfeparadox“), denn durch die Beziehung des Hilfegebenden zu den Hilfenehmenden werde eine „Oben- unten-Situation“ geschaffen. Die Tafeln knüpften daran eine erhebliche Selbstkritik und strengten sich daher an, bedürftige Menschen mit in die Tafelarbeit einzubeziehen, um diese „Oben-unten-Situation“ zu durchbrechen. Des Weiteren wies Herr Brühl darauf hin, die stärkste Kritik käme regelmäßig von den Personen, die die Tafeln intensiv für sich nutzen.

Die Tafeln kämen ihrer sozialen Verantwortung nach, seien sich aber der Grenzen ihrer Arbeit bewusst. Der Staat dürfe sich nicht aus der Verantwortung stehlen, nur weil es die Tafeln gäbe. Die Tafelgrundsätze könne man mit vier Stichworten umreißen: Nachhaltiges Wirtschaften mit Lebensmitteln in einer Wegwerfgesellschaft, die zugleich auch eine Mangelgesellschaft ist, soziale Verantwortung für bedürftige Menschen und soziale Verantwortung im politischen Rahmen, Humanität sowie Gerechtigkeit und Teilhabe für alle Menschen am unteren Rand der Gesellschaft.

Herr Brühl betonte, die Tafeln seien sich bewusst, auch Orte der Scham zu sein, denn in der Regel hätten die Menschen zunächst große Vorbehalte und auch Ängste, zur Tafel zu gehen. Man oute sich dort als hilfebedürftiger Mensch und habe Angst, dies in gewisser Weise öffentlich zu machen. Die Tafeln bemühten sich daher, auch Orte der Begegnung für Menschen zu sein, auch für Menschen, die sich sonst nicht träfen, weil sie aus völlig unterschiedlichen Welten kommen.

„Mit den Tafeln bekommt die Armut in Deutschland ein Gesicht“, so Jochen Brühl. Über die Hälfte der Menschen, die die Tafel besuchen, hätten einen Migrationshintergrund und nicht zu vergessen ein Viertel, der von den Tafeln unterstützten Personen, seien Kinder und Jugendliche sowie ein Viertel Senioren. Zum Abschluss betonte Herr Brühl, die Tafeln seien keine Versorger sondern nur Unterstützter, sie seien nicht systemrelevant. Politisch forderten die Tafeln einen auskömmlichen Mindestlohn und setzten sich insbesondere für eine Erhöhung des Regelsatzes ein.

Der Workshop wurde insgesamt von ca. 30 Personen besucht. Aus dem Teilnehmerkreis entwickelte sich eine lebhafte Diskussion. Viele Redner und Rednerinnen beklagten einen sich aus seiner Verantwortung herausschleichenden Sozialstaat, der Menschen letztlich dazu nötige, zu den Tafeln zu gehen. Die Tafeln seien so etwas wie ein „zusätzliches Sozialamt“, ein Ersatzprogramm für einen früher existierenden Sozialstaat. Manche Jobcenter agierten so, als seien die Tafeln ihr verlängerter Arm für ihre ungenügenden Geldleistungen. Der Verein „Einspruch München“, Frau Lilli Kurowski, wies mehrfach das Problem der Scham von Menschen in Armut hin.

Was tun die Tafeln, um sich überflüssig zu machen? Herr Brühl betonte, die Tafeln seien keine Versorger sondern Unterstützer, die zudem gar nicht alle armen Personen in Deutschland unterstützen könnten. Politisch forderten die Tafeln ein Recht auf Teilhabe, des Weiteren könne der Staat nicht aus seiner Verantwortung entlassen werden.

 

 

Jochen Brühl, Vorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Tafel e.V.

Moderation:  Dr. Rudolf Martens, Paritätischer Gesamtverband/Paritätische Forschungsstelle

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