08.07.2016

Vortrag: Und die im Dunklen sieht man nicht - Warum es so schwer ist, gegen Armut zu mobilisieren

Von: Prof. Dr. Heiner Keupp
Prof. Dr. Heiner Keupp Foto: Stephanie von Becker

Prof. Dr. Heiner Keupp Foto: Stephanie von Becker

"Denn die einen sind im Dunklen Und die Andern sind im Licht. Und man siehet die im Lichte Die im Dunkeln sieht man nicht" Bertolt Brecht

1. Einleitung

Ist es nicht längst ein Ritual geworden: Ulrich Schneider bringt neue Daten über die Armutsentwicklung in der Bundesrepublik, die allen Anlass zu besorgten Reaktionen liefern und er

bringt es mit einer Klarheit und Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig lässt. Die Medien

bringen seine Stellungnahme und meist dann auch die „Expertenstimmen“, die den vom Paritätischen Gesamtverband verwendeten Armutsbegriff diskreditieren. Das Ganze scheint mit einem Patt zu enden, die Argumente pro und contra heben sich offensichtlich in der Diskursarena der Bundesrepublik auf und liefern eine wohlfeile Grundlage für die politische Untätigkeit. Ja, lasst nur die Experten ihren Streit ausfechten, da sind für uns ja noch gar keine Handlungsnotwendigkeiten. Das Thema Armut und seine Folgen für die alltägliche Lebensführung, der von ihr Betroffenen hat es jedenfalls schwer in der Bundesrepublik. Meine eigene Erfahrung als Vorsitzender der Kommission, die den 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung zum Thema Prävention und Gesundheitsförderung erarbeitete und 2009 vorlegte, zeigte mir auch eindrucksvoll die Ignoranz großer Teile von Politik und Verwaltung für die Bedeutung des Armuts- und Gerechtigkeitsthemas. Die damalige Familienministerin und zugleich Medizinerin hatte die Kommission mit großer Emphase auf

den Weg geschickt. Offensichtlich wollte sie dem Themen Prävention und Gesundheitsförderung Priorität einräumen. Man sagte ihr die Ambition nach, Gesundheitsministerin werden zu wollen. Je klarer sich abzeichnete, welch hohen Stellenwert die Kommission der sozialen Ungleichheit für eine gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen einräumen würde, desto weniger Interesse haben wir bei dem beauftragenden Ministerium gespürt. Eine Ministerin, die keine Gelegenheit ausließ, um sich öffentlich zu präsentieren, wollte mit dem Bericht nicht vor die Bundespressekonferenz. In einem Brief, in dem ich ihre mangelnde Unterstützung für den Bericht ansprach, antwortete sie cool, dass sie sich formal korrekt verhalten und den Bericht an den Bundestag weitergeleitet hätte. Dienst nach Vorschrift nennt man so etwas wohl. Der zuständige Bundestagsausschuss befasste sich zweimal mit dem Bericht und veranstaltete auch ein Expertenhearing. Die VertreterInnen der schwarzgelben Regierungsparteien zeigten kaum Interessen und verzichteten teilweise auf ihr Rederecht. Zwei Beschlussvorlagen, die von der SPD und den Grünen in den Bundestag eingebracht wurden und die einige zentrale Empfehlungen der Kommission unterstützten, wurden von der Regierungsmehrheit im Bundestag abgelehnt worden. Dies waren meine eigenen Erfahrungen, die schon eine erste Antwort beinhalten, warum es so schwer ist, gegen

die Armut zu mobilisieren. Aber ich möchte systematischer an das Thema herangehen. Viele Vorredner haben schon kompetent über die Armutsentwicklung referiert. Ich will deshalb nur drei Aspekte beleuchten, die mit meiner eigenen fachlichen Herkunft aus der Psychiatriereformbewegung

und den Gesundheitswissenschaften zu tun haben und die den zweiten Teil meiner Überlegungen vorbereiten sollen, der sich gezielter mit der Titelfrage beschäftigt, warum sich die Mobilisierung gegen Armut in einem besonders reichen Land so schwertut. Es geht mir um die folgenden exemplarischen Themen:

-       Die Soziale Amnesie der PSY-Professionen

-       Die Bedeutung der Armut für die gesundheitliche Situation Heranwachsender

-       Die Gerechtigkeitslücken als pathogener Faktor

2. Armut ausgeblendet – drei Bespiele

a) Soziale Amnesie der PSY-Professionen

Das gegenwärtig vorherrschende Bild von Nutzerinnen und Nutzern psychotherapeutischer Angebote ist ein individualisiertes Subjekt, von dessen realem Lebenskontext kaum mehr die Rede ist. Diese Subjekte suchen psychotherapeutische Unterstützung zur Bewältigung konkreter Lebensschwierigkeiten. Dieses sind Ängste, Selbstwertprobleme oder lebens- und erlebnishinderliche Symptome. Auf sie bezogen, werden psychotherapeutische Angebote gemacht. Die alltäglichen Lebensbedingungen in spezifischen soziokulturellen Kontexten scheinen keine Rolle zu spielen. Jedenfalls kommen sie immer weniger vor. In der für die Etablierung der Psychotherapie grundlegenden Studie von Klaus Grawe u.a. scheint diese Ausblendung erst einmal nicht zu gelten. Da kann man z.B. folgende programmatischen Sätze lesen: "Die realen gesellschaftlichen Lebensbedingungen prägen das Bewusstsein und die psychische Verfassung der Individuen, die in dieser Gesellschaft leben, und dieses Bewusstsein ist gleichzeitig Träger der realen Lebensformen". Die Rede ist weiterhin von einem "engen Zusammenhang zwischen den jeweiligen sozioökonomischen Lebensbedingungen und dem vorherrschenden Bewusstsein des Menschen von sich selbst in Beziehung zu seiner Um- und Mitwelt sowie den kulturellen Produkten dieser Gesellschaft" (Grawe 1994, S. 5). Solche Sätze wecken die Erwartung, dass psychotherapeutisches Handeln und seine Effizienz - zumindest auch - im Hinblick auf sozioökonomische Herkunfts- und Lebensbedingungen evaluiert werden. Auch wenn diese Erwartung beim Weiterlesen zunächst nicht

erfüllt wird, erhält sie bei der Exposition des Auswertungskatalogs für die vorhandenen Therapiestudien doch wieder ein bisschen Nahrung. Bei den fast eintausend Einzelmerkmalen, die mit dem Auswertungskatalog erfasst werden sollen, tauchen sozialstrukturelle Merkmale wie "Schichtzugehörigkeit" und "Berufsgruppenzugehörigkeit" (S. 62) auf, um dann damit endgültig abgehakt zu werden. Bei der Bewertung einzelner psychotherapeutischer Verfahren und ihrer vergleichenden Evaluation spielen die Fragen keine Rolle mehr, ob Menschen mit unterschiedlichen sozioökonomischen Hintergründen das psychotherapeutische Angebot unterschiedlich nutzen und möglicherweise auch in unterschiedlicher Weise daraus Nutzen ziehen. Hier schließe ich mit einer These an:

Die Psy-Professionen zeichnen sich durch eine zunehmende „Gesellschaftsvergessenheit“ oder „soziale Amnesie“ aus. Eine Re-Medikalisierung und ein therapeutischer Technizismus begünstigt eine Vernachlässigung von soziokulturellen Kontextvariablen. Davon sind alle Fragen nach der Bedeutung von gesellschaftlichen Ungleichheitsrelationen betroffen. Wenn wir drei Jahrzehnte zurückgehen, dann wird deutlich, dass unsere Prioritäten damals ganz andere waren. Im Zuge der Studentenbewegung war es für uns klargeworden, dass wir die professionelle Komplizenschaft mit dem spätkapitalistischen System von Ausbeutung und Herrschaft radikal aufkündigen müssten. Wir waren davon überzeugt, dass eine repressive und auf Klassenunterschieden beruhende Gesellschaft Menschen psychisch und gesundheitlich verkrüppeln muss. Die klassischen sozialepidemiologischen Befunde über die schichtspezifische Verteilung psychischer Störungen und die schichtspezifisch unterschiedlichen Chancen auf eine gute psychotherapeutische Behandlung schienen dafür beweisfähig zu sein. Sie zeigten in harten Zahlen das auf, was Christian von Ferber (1971) die "gesundheitspolitische Hypothek der Klassengesellschaft" genannt hat. Auf der fachlichen Ebene

ging es um Rezeption der Forschungsbefunde, die die große Bedeutung sozialstruktureller Lebensbedingungen für die Entstehung und Bewältigung psychischen Leids aufzeigten (z.B. Gleiss, Seidel & Abholz, 1973; Strotzka, 1973; Keupp, 1974). Reformüberlegungen und –maßnahmen für das System psychosozialer Versorgung waren von dem Reformanspruch bestimmt, durch spezifische Angebote von Psychotherapie die Chancen für benachteiligte gesellschaftliche Schichten zu verbessern, Hilfe bei der Lebensbewältigung ihrer schwierigen Lebensbedingungen zu erhalten. In dieser Zeit wurde die klassische sozialepidemiologische Studie von Hollingshead und Redlich (1958) auch in Deutschland "entdeckt" und übersetzt. Sie hatte ja so eindrucksvoll die Schere zwischen Bedarf und Nutzung aufgezeigt: Je gravierender die Zustände psychischen Leids sind, desto geringer ist offensichtlich die Chance auf eine gezielte Psychotherapie. Und genau in dieser Schere reproduziert sich das System gesellschaftlicher Ungleichheit: Je niedriger der sozioökonomische Status ist, desto größer ist das Störungsrisiko und desto geringer ist die Chance auf eine angemessene psychosoziale Hilfe. Die bewusste gesellschaftliche und professionsspezifische Wahrnehmung dieser Schere hat zu einer Reihe von Initiativen in unterschiedlichen therapeutischen Szenen geführt, die die schichtspezifischen Benachteiligungen im Zugang zu psychotherapeutischen Angeboten reduzieren sollten. Nicht nur die Reichen und Mächtigen, sondern insbesondere auch den

Armen und Machtlosen sollten die unterstellten emanzipatorischen Potentiale von Psychotherapie zugänglich gemacht werden. In dieser historischen Periode einer erhöhten Sensibilität für gesamtgesellschaftliche Kontextbedingungen und für soziale Gerechtigkeit ist auch das psychotherapeutische Feld unter einem solchen Fokus reflektiert und diskutiert worden. Dieser historische Rückgriff sollte deutlich machen, dass die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit und ihren gesundheitlichen Folgen ein wichtiger Mobilisierungsfaktor für Reformprozesse war. Und wie ist das mit meinem zweiten Fokus?

b) Arme Kinder und ihr Gesundheitsrisiko

Oskar Negt schrieb kürzlich: „Es ist ein moralischer Skandal, dass in einer der reichsten Gesellschaftsordnungen der Welt und unserer eigenen Geschichte – nämlich in Deutschland –

jedes  fünfte Kind unter Armutsbedingungen aufwächst“ (2012, S. 37). Oskar Negt kennt die Befunde der empirischen Forschung offensichtlich sehr genau. Das Robert-Koch-Institut hat in seiner großen Studie KIGGS 2007 Daten vorgelegt, die zeigen, dass etwa 80 % der Heranwachsenden in Deutschland ganz gut ihren Pfad ins Leben finden. Am wenigsten profitieren von diesen Strukturen Kinder, Jugendliche und ihre Familien, die von Armut, Migration oder besonderen Lebenslagen (wie Behinderung oder schwere psychische und körperliche Erkrankungen der Eltern) sowie von Exklusion betroffen sind. Bei ihnen ist vor allem eine Zunahme psychosozialer Probleme bedeutsam. Das Sondergutachten (SVG) des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen richtet seine spezielle Aufmerksamkeit und Handlungsbereitschaft auf diese Risikogruppen, um der Tatsache Rechnung zu tragen, „dass ein Fünftel eines jeden Geburtsjahrgangs – das sind 140 000 Kinder pro Jahr – mit erheblichen, vor allem psychosozialen Belastungen und gravierenden Defiziten an materiellen und sozialen Ressourcen aufwächst“ (SVR, S. 35). In Übereinstimmung mit der Positionierung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dem Weißbuch

zur psychischen Gesundheit der EU, und der von Richard Wilkinson und Michael Marmot (Marmot 2004; Marmot & Wilkinson 2005; Wilkinson 2005) im Auftrag der WHO zusammengestellten „solid facts“ wird in dieser Formulierung des Gutachtens ein seit Jahren immer wieder benanntes Phänomen, „die stabilen und nahezu monotonen Befunde zur sozialen Verursachung“ (SVR: 139), als die zentrale Herausforderung der Gesundheitsversorgung benannt. Und aus der Sicht des 13.KJB gilt es diese Herausforderung für eine verbesserte Kooperation von Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheitssystem und Behindertenhilfe zum Qualitätskriterium zu machen.

Heranwachsende aus sozial benachteiligten Familien zeigen eindeutig auch eine gesundheitliche Benachteiligung: Sie sind motorisch weniger leistungsfähig, sie ernähren sich ungesünder und bewegen sich weniger, ihr passiver Medienkonsum ist höher, sie haben häufig mehrere Gesundheitsprobleme und geringeres Wohlbefinden, sie verfügen über weniger persönliche, familiäre und soziale Ressourcen, sie zeigen häufiger Verhaltensauffälligkeiten (v.a. Jungen) und

sie haben häufiger psychische Probleme und Essstörungen (v.a. Mädchen).

Und worauf käme es heute an, um Heranwachsende gut auf ihren Weg zu bringen, ihr Leben selbstbewusst, selbstbestimmt in die Hand nehmen zu können? Wie können wir Bedingungen schaffen, die zur Gewinnung von Lebenssouveränität befähigen, auch und gerade für Heranwachsende, die unter prekären Bedingungen aufwachsen? Diesen Punkt möchte ich auch mit einer These abschließen:

Das Armutsrisiko hat erhebliche Konsequenzen vor allem für das gesunde Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen. Die Fachwelt ist sich einig: Armut ist der wichtigste Faktor bei der Beeinträchtigung gesunder Entwicklung. Die wirksamste Strategie der Gesundheitsförderung wäre eine Politik effektiver und nachhaltiger Armutsbekämpfung.

c) Die Gerechtigkeitslücken als pathogener Faktor

Einer der aufregendsten gesundheitswissenschaftlichen Befunde wurde von Richard G. Wilkinson

vorgelegt und er ist in diesem Satz gebündelt: „Unter den entwickelten Ländern weisen nicht die reichsten den besten Gesundheitszustand auf, sondern jene, in denen die Einkommensunterschiede zwischen Reich und Arm am geringsten sind“ (S. XIX). Wilkinson fragt sich, warum die Niederlande, Deutschland oder Österreich die gleiche durchschnittliche Lebenserwartung haben wie etwa Costa Rica oder Kuba, obwohl deren Pro-Kopf-Einkommen nur etwa ein Zehntel des Pro-Kopf-Einkommens der reichen Länder beträgt. Er kommt zu der Antwort, dass es nicht um einen objektiven materiellen Standard geht, sondern um die Verteilungsgerechtigkeit innerhalb einer Gesellschaft. Japan hat z.B.

die geringsten Einkommensunterschiede und gleichzeitig die höchste Lebenserwartung. In Ländern wie England oder auch Deutschland ist zwar in den letzten Jahrzehnten der Lebensstandard gewachsen, aber gleichzeitig auch die Schere zwischen arm und reich immer größer geworden. Die skandinavischen Länder zeigen sehr viele geringere Unterschiede zwischen arm und reich als England und Wales, während dort die Sterbeziffern erhebliche Schichtunterschiede aufweisen. Die Gruppen mit der höchsten Sterblichkeit in Schweden weisen geringere Sterberaten auf als die höchste soziale Schicht in England/Wales. Es ist also das Gerechtigkeitsdefizit, das aus der Sicht von Wilkinson die Länderunterschiede im durchschnittlichen Gesundheitsstatus erklären können. Aber der Epidemiologe geht weiter und begibt sich in das Revier der Gemeindepsychologie. Er stellt die These auf, dass „... gesunde, egalitäre Gesellschaften über einen größeren sozialen Zusammenhalt (verfügen). Das gemeinschaftliche Leben ist stärker ausgeprägt und nicht so leicht zu erschüttern.

(…) Größere Ungleichheit bedeutet eine psychologische Last, die das Wohlbefinden der gesamten

Gesellschaft beeinträchtigt. Aus den Verbreitungsmustern der modernen Krankheiten geht hervor, dass der entscheidende Punkt in diesem Zusammenhang nicht mehr länger der materielle Lebensstandard ist. Heute geht es vielmehr um die psychosoziale Lebensqualität, die durch materielle Gleichheit unterstützt werden muss“ (Wilkinson, 2001, S. XIX). Eine in materielle Unterschiede zerfallende Gesellschaft verliert – so die These – ihren inneren Zusammenhalt, ihr „soziales Kapital“, ihre Solidaritätsressourcen, die auch eine entscheidende Voraussetzung für die individuelle Lebensbewältigung darstellen.

Hierzu eine weitere These:

Von besonderer Bedeutung für den Gesundheitsstatus einer Population ist das gesellschaftliche

Gerechtigkeitsdefizit. Gesellschaften, in denen die Schere zwischen arm und reich groß ist und größer wird, weisen besonders negative Auswirkungen auf den durchschnittlichen psychosozialen und gesundheitlichen Status der jeweiligen Bevölkerung auf. Hier handelt es sich nicht nur um ungleiche Zugänge zu materiellen Ressourcen, sondern auch um eine Bedrohung der Solidaritätsressourcen einer Gesellschaft. Diese makrosoziale Dimension verweist auf die Notwendigkeit gesamtgesellschaftlich wirksamer politischer Interventionen hin.

3. Mobilisierungsbremsen

In seinem Buch „Retten uns die Reichen“, stellt Zygmunt Bauman (2015), nachdem er dramatische

Zahlen über die Ungleichheit im Zugang zu ökonomischen Ressourcen zusammengestellt hat, in einer Kapitelüberschrift die dramatische Frage: „Warum finden wir uns damit ab?“ Ich möchte in dieses „Wir“ nicht eingemeindet werden, aber es ist notwendig, diese Frage nach kollektiven Mentalitätsmustern zu stellen, die die Mobilisierung gegen Armut erschweren oder verhindern.

Dazu möchte ich einige Thesen formulieren:

(1) Die Entsorgung der „Klassenfrage“ war erfolgreich und in einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft sind wir trotzdem nicht angekommen.

Ist das Thema soziale Ungleichheit aus dem fachlichen Aufmerksamkeitszentrum verschwunden,

weil soziale Unterschiede an Bedeutung verloren haben und allmählich die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" entstanden ist, die schon von einigen konservativen Ideologen in den 50er Jahren verkündet worden war? Empirisch spricht für diese Deutung nichts. Plausibler dürfte die Erklärung sein, es einen Aufmerksamkeitsverlust für kollektive Lebenslagen gab, der in besonderem Maße an der Erosion kollektiver Erfahrungs-, Wahrnehmungs- und Erlebnisweisen teilhat, die auf die weitreichenden gesellschaftlichen Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse zurückzuführen sind. In diesen Prozessen wird nicht der objektiv ungleiche Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen aufgehoben, aber das gesellschaftliche Bewusstsein für diese Ungleichheit verändert sich. Ulrich Beck hat dazu folgende These vorgelegt: "Auf der einen Seite sind die Relationen sozialer Ungleichheit in der Nachkriegsentwicklung der Bundesrepublik weitgehend konstant geblieben. Auf der anderen Seite haben sich die Lebensbedingungen der Bevölkerung radikal verändert. Die Besonderheit der sozialstrukturellen Entwicklung in der Bundesrepublik ist der 'Fahrstuhl-Effekt'. Die 'Klassengesellschaft' wird insgesamt eine Etage höher gefahren" (1986, S. 122). Die aus der Not geborenen sozialen Netzwerke von Alltagssolidarität, die die schlimmsten Auswirkungen der gemeinsamen Klassensituation auffingen, sind in einem ausgebauten Wohlfahrtsstaat nicht mehr von absoluter Notwendigkeit. Hinzu kommen die vom Arbeitsmarkt geforderte hohe Mobilität und Flexibilität des einzelnen, die weitere wichtige Gründe für die zunehmende Individualisierung liefern. "Es entstehen der Tendenz nach individualisierte Existenzformen und Existenzlagen, die die Menschen dazu zwingen, sich selbst - um des eigenen materiellen Überlebens willen - zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanung und Lebensführung zu machen" (Beck, 1986, S. 116f.). Gerade für Disziplinen und Professionen, die sich mit dem Subjektiven beschäftigen, hat dieser Entwicklungsprozess besondere Bedeutung. Subjektive Prozesse, Freud und Leid, lösen sich aus dem "Schicksals-" und "Bewältigungszusammenhang" einer kollektiven Lebenslage: "In den enttraditionalisierten Lebensformen entsteht eine neue Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft, die Unmittelbarkeit von Krise und Krankheit in dem Sinne, dass gesellschaftliche Krisen als individuelle erscheinen und in ihrer Gesellschaftlichkeit nur noch sehr bedingt und vermittelt wahrgenommen werden können" (ebd., S. 118). Wenn sich PSY-Professionen diese Zusammenhänge nicht vergegenwärtigen, sind sie in Gefahr, die gesellschaftlichen Erfahrungen der Subjekte ideologisch zu verdoppeln. Denn die gesellschaftlich ungleichen Zugänge zu gesellschaftlichen Ressourcen sind geblieben und damit die ungleichen Bedingungen für die Auseinandersetzung mit und Bewältigung von Krisen und Belastungen.

Hier schließe ich eine weitere These an: Im Zuge einer allmählichen ideologischen Entsorgung der „Klassenfrage“, die konservative Formel von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ tat seine Wirkung. Hinzu kam der wohlfahrtstaatliche „Fahrstuhleffekt“, der zwar nicht die Ungleichheitsrelationen aufgehoben hat, sie aber durch kompensatorische fiskalische Maßnahmen auf einem hohen sozialpolitischen Niveau aus dem Bewusstsein und der Sichtbarkeit von massenhafter Verelendung verdrängt hat.

(2) Ein neoliberales „Gehirndoping“ hat uns die Aufteilung der Welt in „looser“ und „winner“ und die Figur des „unternehmerischen Selbst“ beschert.

Der Neoliberalismus ist kein Projekt, das im Feld der Ökonomie die Steuerung übernommen

hat. Er hat auch in die Psyche der Menschen Eingang gefunden. Er hat Menschenbilder geformt und neue Identitäten geschaffen. Wir spüren die Erwartungen, ein „unternehmerisches Selbst“ (Bröckling 2007) zu werden, das sein Leben als eine Abfolge von Projekten sieht und angeht, die mit klugem Ressourceneinsatz optimal organisiert werden müssen. Auch staatliches Handeln, nicht zuletzt im Bereich der Sozialpolitik, setzt immer stärker auf  das individuelle Risikomanagement anstelle von kollektiver Daseinsvorsorge. Ich bin für meine Gesundheit, für meine Fitness, für meine Passung in die Anforderungen der Wissensgesellschaft selbst zuständig – auch für mein Scheitern. Nicht selten erlebt sich das angeblich „selbstwirksame“ unternehmerische Selbst als „unternommenes Selbst“ (Freitag 2008). Wir brauchen eine kritische Auseinandersetzung mit dem neoliberalen Menschenbild des

„modularen Menschen“, der mit seiner IKEA-Identität ein „Wesen mit mobilen, disponiblen und austauschbaren Qualitäten darstellt“ (Bauman 1999, S. 158). Oft genug aus der Angst heraus, nicht „dabei zu sein“, passt er sich in seinen Lebensformen der unaufhaltsamen Beschleunigungsdynamik

an. Aber der gesellschaftliche und berufliche Fitness-Parcours hat kein erreichbares Maß, ein Ziel, an dem man ankommen kann, sondern es ist eine nach oben offene Skala, jeder Rekord kann immer noch gesteigert werden. Hier ist trotz Wellness-Industrie keine Chance, eine Ökologie der eigenen Ressourcen zu betreiben, sondern in einem unaufhaltsamen Steigerungszirkel läuft alles auf Scheitern und einen Erschöpfungszustand zu. Wie die DAK-Daten gezeigt haben, steigen auch Angststörungen erheblich an. Auf die Grenzen der „unternehmerischen Anrufung“ und des „Subjektivierungsregimes“

weist auch Bröckling (2007, S. 289) hin: „Weil die Anforderungen unabschliessbar sind, bleibt der Einzelne stets hinter ihnen zurück.“ Oder an anderer Stelle „Im Unglück der Depressiven wird die Kluft zwischen dem Anspruch an die Individuen und ihren stets unzureichenden Anstrengungen sichtbar“ (ebd., S. 290). „Depressive Erschöpfung (ist) die dunkle Seite der auf Dauer gestellten Hyperthymie des unternehmerischen Selbst“ (ebd., S. 291). Diesen persönlichkeitsgefährdenden Grenzüberschreitungen des neoliberalen Aktivierungsregimes arbeiten Schule und Hochschule zu. Wie Freytag (2008) aufzeigt, werden sie unter tatkräftiger Mithilfe von Beratungsfirmen umgebaut. In ihrer ursprünglichen begrifflichen Bedeutung sollten sie Orte der Muße sein. Sie werden jetzt zu knowledge-factories für Funktionswissen; ihr persönlichkeitsbildender Ehrgeiz gilt dem unternehmerisch denkenden Selbstvermarkter, der unter den noblen Begriffen der „Selbstständigkeit und Souveränität“ die Fähigkeit zum Selbstvollzug heterogener Fremdinteressen erlernt: Im fortgeschrittenen Kapitalismus übernehmen die Beherrschten das Geschäft ihrer Beherrschung selbst.

Scheitern wird zunehmend ein Tabu. Unsere Kultur wird zunehmend eine „Winner“-Kultur, sie will vor allem Sieger- und Erfolgsgeschichten hören und sie verdrängt die andere Seite der Medaille. Dies heißt auch, sich von den dominierenden ideologischen Menschenbildvorgaben des neoliberalen Herrschaftsmodells ebenso zu befreien wie von der Hoffnung auf eine obrigkeitliche Lösung.

(3) Es gibt eine bemühte Rede über die „inklusive“ Gesellschaft und gleichzeitig wächst

das „Exklusionsempfinden“.

Wir haben Sozialgesetzbücher, die weltweit kaum in ihrer Fortschrittsrethorik zu überbieten sind. Wir haben eine Regierung, die erstaunlich schnell die UN-Konvention der Rechte von Menschen mit Behinderung und sogar auch noch gleich die UN-Konvention der Kinderrechte in vollem Umfang ratifiziert hat, die 20 Jahre in der politisch-juristischen Warteschleife versauerte. Der Rechtsstatus von Menschen, die körperlich, psychisch und sozial beeinträchtigt sind, hat offensichtlich ein Niveau erreicht, das wir uns zu Beginn der Reformaktivitäten in den 60er und 70er Jahren nicht hätten träumen lassen. Von einem Paradigmenwechsel ist die Rede, statt Exklusion soll Inklusion gefördert werden. Inklusion klingt wie das Versprechen einer großen Freiheit, und bedeutet letztlich aber, aus

Schon-, Schutz- und Ausgrenzungsräumen in dem Getriebe des globalisierten Netzwerkkapitalismus

anzukommen, mit all seinen Chancen und Risiken. Verstehen wir unter Inklusion das Recht an den allgemeinen Zugangschancen zu Bildung, Freizeit, Gemeinschaft oder Konsum uneingeschränkt beteiligt zu sein, dann bedeutet es in letzter Konsequenz Teilhabe an einer kapitalistischen Gesellschaft, in der eine gnadenlose Konkurrenz um Geld, Macht und Status herrscht. Es ist eine Gesellschaft, in der vom Subjekt ein Höchstmaß an Flexibilität, Mobilität und Eigenregie verlangt wird. Ja, in letzter Konsequenz wird von den Subjekten die Realisierung der Norm vom „unternehmerischen Selbst“ verlangt. Die Normen für Anerkennung und Zugehörigkeit heißen „Employability“ und ökonmischer Nutzen. Für Menschen mit Behinderung kann Inklusion den Eintritt in eine normierte Leistungsgesellschaft bedeuten, die mit diversity nur etwas anfangen kann, wenn sie Gewinne verspricht. Inklusion ist eine allgemeine Perspektive, die als allgemeines Menschenrecht verstanden

werden muss, allerdings ist das Faktum zu konstatieren, dass eine wachsende Anzahl von Menschen und Menschengruppen von diesen Verwirklichungschancen abgeschnitten ist, marginalisiert und aus dem Alltag von Arbeit, Politik, Konsum und Zivilgesellschaft ausgeschlossen ist oder sich so erlebt. Armut ist wieder zu einem zentralen Thema geworden, Begriffe wie „Prekariat“ oder „Exklusion“ begegnen uns und lassen sich als Indikatoren für eine tiefgreifende gesellschaftliche Transformation lesen. Die gesellschaftliche Ignoranz gegenüber der wachsenden Zahl ausgegrenzter Menschen, die lange Zeit auch das Bild der Sozialwissenschaften geprägt hatte, scheint angesichts der Dimensionen der sich vollziehenden Exklusion allmählich aufzubrechen. Aktuell erscheinen Bücher, in deren Titel die „Exklusion“ (Kronauer 2003), die „Ausgegrenzten“, „Entbehrlichen“ und „Überflüssigen“ (so Bude und Willisch 2006) oder die „Ausgeschlossenen“ (Bude 2008) ins Zentrum gerückt werden. Wie wir der soziologischen Auslegung des Exklusionsthemas entnehmen können, entsteht hier eine gesellschaftliche Konstellation auf neuem Niveau, die dadurch ausgezeichnet ist, dass neben der objektiven Prekaritätsdiagnose eine subjektive Seite beleuchtet wird, die von Bude und Lantermann (2006) als „Exklusionsempfinden“ bezeichnet wird. Im gesellschaftlichen Verhältnis von Exklusion und Inklusion machen sich Veränderungen und Umbrüche bemerkbar. Diese zeigen sich aktuell im Feld der Erwerbsarbeit, im Bereich wohlfahrtsstaatlicher Regulierung und letzten Endes im Gebiet der sozialen Beziehungen selbst. Das Zusammenspiel der drei Entwicklungen führt zu einer zugespitzten Form der Exklusion. Nach Castel (2003, S. 13) spaltet sich die Gesellschaft dabei unter der Wirkung dieser Schockwellen zunehmend in drei Zonen: Den Zonen der Inklusion, der Gefährdung oder Verwundbarkeit und der Zone der Ausschließung oder Exklusion. Eine genaue Analyse der Zonen Verwundbarkeit und der Ausschließung ist erforderlich, um noch genauer herauszufinden, woran das Zugehörigkeitsbegehren in seiner Verwirklichung scheitern kann und die Idee der „Selbstsorge“ (vgl. Lantermann et al. 2008) sich illusionär verflüchtigt.

(4) Eine zunehmende Entsolidarisierung geht von der gesellschaftlichen Mitte aus, die

zunehmend als „vereist“, „enthemmt“ oder durch eine „rohe“ oder „entsicherte Bürgerlichkeit“

beschrieben wird.

Wir erfinden Wortungetüme wie „Armutsmigration“, die rechtfertigen sollen, dass von existentieller Armut getriebene Menschen kein Recht hätten, zu uns zu kommen. Zuwanderung muss sein, aber sie soll an strengen Kriterien der Nützlichkeit für Deutschland geknüpft werden. Rolf Rosenbrock, der Präsident des Paritätischen, hat es in einer Rede kürzlich so ausgedrückt und bezieht sich dabei auf das Menschenbild des vom Finanzmarkt getriebenen Kapitalismus: „Es ist die Hegemonie des Utilitarismus, die zunehmende Durchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche mit der Logik des individuellen Tausches und der individuellen Maximierung des materiellen Nutzens, es ist die Kolonialisierung der Lebenswelten durch das Denken und Fühlen in Kategorien des Marktes. Dieses Denken hat noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbare Fragen nahezu gesellschaftsfähig gemacht“ (2014, S. 4). Noch drastischer hat Zgymunt Bauman (1992) die Folgen dieses Denkens in Kategorien des ökonomischen Nutzens gekennzeichnet: "Die postmoderne Welt des fröhlichen Durcheinander

wird an den Grenzen sorgfältig von Söldnertruppen bewacht, die nicht weniger grausam sind als die, die von den Verwaltern der jetzt aufgegebenen Globalordnung angeheuert waren. Lächelnde Banken strahlen nur ihre jetzigen und zukünftigen Kunden an (...) Höfliche Toleranz gilt nur für diejenigen, die hereingelassen werden. Und so scheint die Grenzziehung zwischen dem Drinnen und Draußen nichts von ihrer Gewalttätigkeit und genozidalen Kraft verloren zu haben" (S. 317). In seinem mit dem vielsagenden Titel „Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne“ (2005) zeigt Bauman, dass die modernen kapitalistischen Gesellschaften ständig menschlichen Abfall produziert, Menschen, die

niemand braucht und die übersehen werden, obwohl die Gruppen immer größer werden: Ortlose Migranten, Flüchtlinge und für „überflüssig“ gehaltene Menschen, zunehmend werden dazu auch arme Menschen und Langzeitarbeitslose gerechnet. Sie leben unter uns, aber gehören nicht dazu. Diese Haltung der zunehmenden Entsolidarisierung ist sehr deutlich durch die von Wilhelm Heitmeyer geleiteten Studie aufgezeigt worden, in der seit 2002 in jährlichem Abstand unter dem Titel „Deutsche Zustände“ die mentalen Reaktionen auf die aktuelle soziokulturelle-politische Situation untersucht wurde. Eine Auffällig sind ein verschärftes Krisenbewusstsein und eine Bedrohung durch die gesellschaftliche Vielfalt in allen sozialen Segmenten und deutlich höhere Werte der menschenfeindlichen Gesamteinstellung bei Menschen, die sich durch Krisen bedroht fühlen. Gleichzeitig wächst das Gefühl, keinen Einfluss nehmen zu können. Hatte Heitmeyer 2003 noch die Gefahr herausgestellt, dass „scheinbar harmlose distanzierende Einstellungen sich in unsicheren Zeiten in feindselige Normalität verwandeln“ können, ja zu einem „Normalitätspanzer“ werden könnten, so fällt seine Einschätzung 2011 deutlich besorgter aus. Er spricht von einer „rohen Bürgerlichkeit“ und einem „entsicherten Bürgertum“, das Solidaritäten aufkündigt und „sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen an den Maßstäben der kapitalistischen Nützlichkeit, der Verwertbarkeit und Effizienz orientiert und somit die Gleichwertigkeit von Menschen sowie ihre psychische und physische Integrität antastbar macht“ (Heitmeyer 2012, S. 34 f.). Von einer "deutlichen Vereisung des

sozialen Klimas" ist die Rede. Die Forscher betonen, dass der gepflegte Konservatismus abgestreift werde: Zivilisierte, tolerante, differenzierte Einstellungen in höheren Einkommensgruppen scheinen sich in unzivilisierte, intolerante Einstellungen zu wandeln. Deutlich wird das z.B. bei dem Ergebnis, dass es 61,2 % empörend finden, dass sich Langzeitarbeitslose auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben einrichten und 52,7 % glauben, dass sie kein Interesse daran haben, ein Job

zu finden.

(5) Ein erhebliches Potential an „Angstrohstoff“ gefährdet die spätmodernen Gesellschaften

und das gesamte Gefüge Europas und fördert „politische Schwarzmarktphantasien“.

Geht es denn uns Deutschen nicht wirklich gut, vor allem im Vergleich zu den meisten anderen europäischen Ländern, von den außereuropäischen gar nicht zu sprechen? Jedenfalls ist der volkswirtschaftliche Zustand des Landes mehr als befriedigend. Für viele Zuwanderer scheint die Bundesrepublik das „gelobte Land“ zu sein. Trotzdem wird in aktuellen Analysen dieses Land als „erschöpfte Gesellschaft“ (Grünewald 2013) oder als „Gesellschaft der Angst“ (Bude 2014) charakterisiert. Auch von einer „Politik der Angst“ (Nussbaum 2014) ist die Rede. Da werden mentale Strömungen angesprochen, die einer genaueren Analyse bedürfen, denn Sie sind entscheidend für das Exklusionsempfinden vieler Gruppen. Die mentale Verfassung in Deutschland zeigt, dass die aufsteigende Kurve der ökonomischen Prosperität einen hohen psychosozialen Preis fordert und vor allem nicht alle BürgerInnen mitnimmt. Die Abstiegsängste haben längst die Mittelschichten erreicht, die ahnen, spüren oder erleben, dass man sich auf die Absicherung der eigenen beruflichen und persönlichen Perspektive nicht mehr verlassen kann und die Anforderungen der Zugehörigkeit zu einem scheinbar gesicherten Mittelfeld permanent steigen. Oskar Negt spricht von dem „Angstrohstoff“, der sich endemisch ausbreitet. Immer mehr Menschen fühlen sich als Opfer und übersehen dabei immer mehr die Menschen, die wirklich ausgegrenzt und auf der Strecke geblieben sind. Bei manchen mentalen Mustern, die sich in populistischen Diskursen aktuell zeigen, fällt einem Bebels Formulierung vom „Sozialismus der dummen Leute“. Es wird ein Unbehagen artikuliert, das aber den intellektuellen Pfad zu einer Gesellschaft struktureller Ungerechtigkeit nicht findet. Es wuchern „politische Schwarzmarktphantasien“ (Oskar Negt 2012).

4. Ein zivilgesellschaftlicher Ausblick

Die beschriebenen mentalen Muster tragen jeweils mit eigenem Gewicht zur Exklusion von Menschen und Menschengruppen bei. Sie resultieren aus wachsenden Gefühlen der Ohnmacht, die diffuse Ängste und Verunsicherungen fördern. Ohnmacht angesichts nicht begreifbarer und kontrollierbarer gesellschaftlicher Verhältnisse ist kein Alleinstellungsmerkmal der Spätmoderne. In gesellschaftlichen Umbruchphasen verlieren Menschen die bislang den Alltag sichernden Handlungsroutinen, Normalitätsschablonen, Orientierungen und damit verbundene Sicherheiten. Gerade die neuzeitlichen Subjekte stürzt dies in besondere Krisen, denn sie haben ihrem Selbstverständnis nach eine für sie unkontrollierbare Natur und Schöpfungsordnung hinter sich gelassen und fühlen sich handlungsmächtig. Ihre Welt erscheint ihnen weitgehend als ihre eigene Schöpfung, aber sie entgleitet ihnen zunehmend. Es gibt das verbreitete Gefühl des Kontrollverlustes und die regressive Sehnsucht nach den alten geordneten gesellschaftlichen Zuständen. Und natürlich sucht man Gründe für die eigenen mentalen Irritationen: Hier bekommen Verschwörungstheorien, Sündenbockangebote,

rechtspopulistische Deutungen und die in die Subjekte eingeschliffenen neoliberalen Menschenbilder ihre Chance. Sie versprechen Lösungen und sind doch „Schiefheilungen“ (Freud 1921, S. 159), die eher die Ohnmacht und Angstpotentiale erhöhen. Das ist die Ohnmachtsfalle (Keupp 2013; 2014).

Aus meiner Sicht führt nur eine zivilgesellschaftliche Perspektive aus dieser Ohnmachtsfalle. „Bürgerschaftliches Engagement“ wird aus dieser Quelle der vernünftigen Selbstsorge gespeist. Menschen suchen in diesem Engagement Lebenssinn, Lebensqualität und Lebensfreude und sie handeln aus einem Bewusstsein heraus, dass keine, aber auch wirklich keine externe Autorität das Recht für sich beanspruchen kann, die für das Subjekt stimmigen und befriedigenden Konzepte des richtigen und guten Lebens vorzugeben. Zugleich ist gelingende Selbstsorge von dem Bewusstsein durchdrungen, dass für die Schaffung autonomer Lebensprojekte soziale Anerkennung und Ermutigung gebraucht wird, sie steht also nicht im Widerspruch zu sozialer Empfindsamkeit, sondern sie setzen sich wechselseitig voraus. Und schließlich heißt eine „Politik der Lebensführung“ auch: Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass meine Vorstellungen vom guten Leben im Delegationsverfahren zu verwirklichen sind. Ich muss mich einmischen. Eine solche Perspektive der Selbstsorge ist deshalb mit keiner Version „vormundschaftlicher“ Politik und Verwaltung vereinbar. Ins Zentrum rückt mit Notwendigkeit die Idee der „Zivilgesellschaft“. Diese bildet den Sauerteig einer zukunftsfähigen Demokratie. Dieser entsteht nicht aus einem moralischen Kraftakt, der den hedonistisch gesonnenen Subjekten als Opfer und Verzicht abverlangt werden muss. Er wird vielmehr aus einer Lebenspolitik der Selbstsorge erzeugt: Es ist nicht anstößig, sondern legitim und wertvoll gemeinschaftsförderliche Projekte aus eigenen Wünschen und Interessen heraus zu beginnen und voranzutreiben. Selbsthilfegruppen und die meisten Projekte bürgerschaftlichen Engagements gewinnen ihre Stärke und Vitalität genau aus einem solchen motivationalen Wurzelgeflecht.

Für mich ist Bürgerengagement ein gesellschaftliches Handlungsfeld, das sich gezielt als unabhängig von dem Kreislauf der Geldströme des globalisierten Kapitalismus versteht, das sich den Kriterien der Verbetriebswirtschaftlichung und Monetarisierung entzieht. Ich habe erst spät einen wichtigen Unterschied gelernt, den die deutsche Sprache nicht sehr gut auszudrücken vermag, den Unterschied zwischen dem „bourgeois“ und dem „citoyen“. Es geht also um die Differenz von dem Menschen, der sich am kapitalistischen Wirtschaftsgeschehen mit der Aneignung einer spezifischen Charaktermaske stromlinienförmig beteiligt und den Profit als seine Haupttriebfeder betrachtet und jenem Menschen, der den Anspruch hat, im Sinne der Aufklärung und unter Wahrung elementarer Menschenrechte sich an der Gestaltung der eigenen Lebensverhältnisse zu beteiligen. Diese selbstbewussten BürgerInnen, die sich einmischen, unbequem sein können, die Macht kontrollieren, sich für Bürgerrechte und Solidarität engagieren und den staatlichen Instanzen nicht als Untertan gegenüberstehen, die sich die Wahrung und Weiterentwicklung demokratischer Lebensformen zu ihrem Anliegen gemacht haben, galt es erst zu entdecken. Und ich habe sie entdeckt. Der gesellschaftliche Modernisierungsschub, der vor allem seit den 70er Jahren den gesellschaftlichen Grundriss der Bundesrepublik nachhaltig verändert hat, hat in Form neuer sozialer Bewegungen und Initiativen auch eine selbstaktive Gestaltungskraft hervorgebracht. Für viele neue Probleme des Alltags gab es in den traditionellen Strukturen alltäglicher Lebenswelten keinen Lösungsvorrat, auf den man einfach hätte zurückgreifen können. Für eine Reihe von neuen biographischen Konstellationen (wie z.B. die weibliche Doppeloption Familie und Beruf oder Erfahrungen von Vorruhestand) gab es keine institutionell abgesicherten Lösungsmöglichkeiten und in vielen Bereichen war das Vertrauen auf „das Bewährte“

erschüttert und gerade die neuen sozialen Bewegungen verstanden sich als kollektive Zukunftswerkstätten, in denen – im Sinne des „demokratischen Experimentalismus“ – neue Lösungsentwürfe erprobt wurden. In einer Vielzahl konkreter Projekte wurden neue Wege erprobt. Diese Projekte lassen sich verstehen als „’soziale Experimentierbaustellen’, als ‚emanzipatorische Antworten auf Risiken der aktuellen Modernisierungsprozesse’“ (Helbrecht-Jordan 1996, S. 107). Die Psychiatriereform-, die Frauen-, die Selbsthilfe- oder die ökologische Bewegung waren solche „soziale Experimentierbaustelle“ und wir brauchen sie dringender denn je!

 

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