08.07.2016

Resümee: Anforderungen an eine offensive Armutspolitik

Von: Dr. Ulrich Schneider (Der Paritätische Gesamtverband)
Dr. Ulrich Schneider (Der Paritätische Gesamtverband)

Dr. Ulrich Schneider (Der Paritätische Gesamtverband)

Liebe Paritäterinnen und Paritäter, liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter,

an mir liegt es nun, die Ergebnisse dieser zwei Tage zusammenzufassen. Da dies jedoch nicht möglich ist, möchte ich mich darauf beschränken, Ihnen mitzuteilen, was ich glaube gelernt zu haben. Ich möchte dies in wenigen Punkten tun.

1.    Ich werde nach dieser Fachtagung nie mehr erklären, in Deutschland gebe es eigentlich keine absolute Armut. In Deutschland handele es sich eigentlich nur um eine relative Armut, da zumindest das physische Existenzminimum – Kleidung, gesundheitliche Versorgung und Nahrung – für alle gesichert sei. Natürlich gebe es auch existentielle Armut, doch nur in wenigen Fällen als eine Verkettung äußerst unglücklicher biografischer Umstände.

Nachdem ich die Workshops zur Situation von Flüchtlingen, zur Wohnungsnot und zur gesundheitlichen Versorgung besucht habe, bin ich eines besseren belehrt. Wenn Prof. Trabert davon berichtete, dass so lange um die Kostenübernahme für die Operation eines wohnungslosen Menschen mit Lungenkrebs gerungen werden musste, bis eine Operation gar nicht mehr möglich war, da sich mittlerweile Metastasen gebildet hatten, wenn er berichtete, dass dann über die Kostenübernahme für die Chemotherapie wiederum solange gestritten werden musste, dass der Patient schließlich an dem Krebs verstorben war, ohne Therapie, dann ist das ein Tod aufgrund existenzieller Armut. Wenn ich höre, dass einem jungen Flüchtlingskind, das sich noch ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland aufhält, eine wichtige Operation zur Erlangung seines Gehörs und seiner Sprechfähigkeit vorenthalten wird, dann ist dies existenzielle Armut. Und wenn ich im Workshop zur Wohnungsnot einmal mehr darauf hingewiesen wurde, dass Mietschulden zwar übernommen werden, bei Beziehern von Harzt IV diese Schulden dann jedoch durch Abzüge vom Regelsatz wieder eingetrieben werden, dann werden diese Menschen unter das soziokulturelle Existenzminimum gedrückt. Dann ist das absolute Armut. Es sind hunderttausende von Fällen und es sind keine Einzelfälle, sondern es ist das Resultat einer gezielten Ausgrenzungssystematik, sei es im Asylbewerberleistungsgesetz, bei der gesundheitlichen Versorgung von Obdachlosen oder aber bei den Zuwendungen für Hartz IV-Bezieher. Wir pflegen in Deutschland ganz offensichtlich einen neuen Umgang mit dem bis dahin als verfassungsrechtlich geschützt geltenden soziokulturellen Existenzminimum. Es war Regel und weitestgehend gesellschaftlicher Konsens, dass jeder in Deutschland das Recht auf eine Leistung hat, die ihm nicht nur das physische Überleben sichert, sondern auch Teilhabe an dieser Gesellschaft auf bescheidenem Niveau, und es war Regel, dass jeder das Recht auf diese Leistung hat, ganz egal, wie er in die Notsituation geraten ist, die ihn  Hilfe in Anspruch nehmen lässt.

Dies scheint sich grundlegend geändert zu haben. Das Recht auf das soziokulturelle Existenzminimum, auf das Mindeste –  das im Übrigen auch eine nach unseren deutschen Standards gute gesundheitliche Versorgung mit einschließt –  haben ganz offensichtlich weder nichtanerkannte Flüchtlinge, noch Obdachlose, noch Menschen die von Hartz IV oder der Altersgrundsicherung leben müssen, aber verschuldet sind.

Das hat mir sehr zu denken gegeben und muss uns alle stark beschäftigen.

2.    Unser Vorsitzender  Prof. Rosenbrock  eröffnete unsere Tagung mit zwei Zitaten. Ein altes chinesisches Sprichwort besagt, dass es besser ist eine Kerze anzuzünden, als die Dunkelheit zu beklagen. Und er zitierte ein Graffiti, das uns – bei Anlehnung an ein Zitat von Che Guevara – auffordert, das Unmögliche zu fordern.

„Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche“, hieß es bei Che Guevara.

Denn, so Prof. Rosenbrock, eine gute Gesellschaft sei nur scheinbar unmöglich.

Dieser Satz vom nur scheinbar Unmöglichen klingt erst einmal schlicht, doch erhält er, lassen wir uns auf ihn ein, eine enorme Wucht. Eine Gesellschaft ohne Armut, das ist die Aussage, ist nicht nur wünschenswert, sondern auch möglich. Für einen jeden Menschen und einen jeden Verband, der sich die Bekämpfung von Armut auf die Fahnen geschrieben hat, bedeutet eine solche Aussage eine sehr anspruchsvolle Selbstverpflichtung.

Wären wir, aus welchen Gründen auch immer, der Überzeugung, eine Gesellschaft ohne Armut werde es niemals geben können, so wäre es in der Tat damit getan, Armut so gut, wie es eben geht, zu bekämpfen – und das ist schon schwierig genug. Es ginge darum, Armut auf einem möglichst kleinen Level zu halten und immer wieder wie Sisyphos im Gleichnis von Albert Camus den Fels den Berg hinauf  zu rollen. Konstatiere ich jedoch, dass es möglich ist, diese Armut zu beseitigen, eine Gesellschaft ohne Armut zu schaffen, glaube ich erkannt zu haben, dass dies wirklich möglich ist, so erwächst daraus geradezu zwangsläufig die moralische Verpflichtung, Armut nicht nur im Einzelfall zu mildern,   sondern für diese andere „unmögliche“ Gesellschaft selbst zu sorgen,  die ja doch möglich ist.

Wir sind sehr gut, wenn es darum geht, Kerzen anzuzünden. Wir verfügen darin über einen große Erfahrung. Es handelt sich dabei um unsere Kernaufgabe als Wohlfahrtsverband. Die, die heute arm sind, brauchen heute Hilfe und nicht irgendwann. Wir sind richtig gut und innovativ darin, diese Hilfen zu generieren, und wir sind wirklich gut darin, Menschen dafür zu begeistern, anderen zu helfen. Das ist wichtig, davon lebt unser Verband. Es ist der Spagat, zwischen dem Anzünden einer Kerze und der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung, die jeder Sozialarbeiter und jede Sozialarbeiterin auszuhalten hat. Es kennzeichnet unseren Beruf, dass wir ihn in Widersprüchen ausüben. Und doch gehört es zum Wesen der sozialen Arbeit selbst.

Indem ich jedoch das Unmögliche zum Möglichen deklariere und an eine machbare Utopie glaube, wonach es keine Armut mehr gibt, erwächst daraus die Verpflichtung auch in dem Ringen um die Umsetzung dieser Utopie immer besser zu werden. So wie wir immer besser darin werden, Kerzen anzuzünden müssen wir auch immer besser darin werden, dass Unmögliche zu realisieren. Wir müssen skizzieren, wie eine Gesellschaft ohne Armut aussehen kann, wir müssen analysieren, wo Armut systemisch produziert wird, und wir müssen uns schließlich politisch einsetzen und Konsequenzen ziehen.

Doch worauf speist sich eine solche Utopie?

Es war Prof Trabert, der in seinem Workshop zur gesundheitlichen Versorgung den Begriff der Gleichwürdigkeit in diesen Kongress einführte, ein Begriff der mich elektrisierte. Er korrespondierte mit einer Aussage von Prof. Hengsbach, der erklärte, dass jeder Gerechtigkeitsbegriff erst einmal von einer Gleichheitsvermutung auszugehen hat, dass nämlich jeder den anderen als seinesgleichen ansieht.  Uns geht in aller Regel ziemlich schnell über die Lippen, dass die Würde des Menschen doch unantastbar sein müsse, dass bei der Ausgestaltung sozialer Hilfen die Würde des Menschen im Mittelpunkt zu stehen hätte. Ganz praktisch ist jedoch meist so, dass die Würde des Menschen sich dann in irgendeinem Mindeststandard wiederfinden soll. So ist die Würde des Menschen in Hartz IV und in der Altersgrundsicherung beispielsweise mit einen Betrag von 404 Euro Regelsatz im Monat und Übernahme der Unterkunftskosten abgegolten. Würde als Mindeststandard.

Der Begriff der Gleichwürdigkeit meint dagegen deutlich mehr, er meint vielleicht sogar etwas völlig anderes: Es hat nicht jeder seine Würde, es hat jeder die gleiche Würde, jeder hat auf Augenhöhe zu sein, jeder ist des anderen Gleicher. Friedhelm Hengsbach leitete daraus in seinem Vortrag konsequent ein Recht auf auf Rechtfertigung als Kern eines jeden Gerechtigkeitsbegriffes ab. Wenn alle die gleiche Würde haben, wenn alle jedes Gleichen sind, dann gibt es ein Recht auf Rechtfertigung für diejenigen, die unterprivilegiert sind, denen weniger zuteilwird, die ausgegrenzt sind. Zu rechtfertigen haben sich die Privilegierten, die, die mehr haben, denen alles offensteht. Sie haben zu begründen, weshalb dies so ist, obwohl doch alle die gleiche Würde haben und alle das gleich Anrecht. Es geht dann plötzlich nicht mehr darum, dass hilfebedürftige Personen, Unterprivilegierte, Danke zu sagen haben, für das was wir ihnen zukommen lassen. Es geht plötzlich darum, dass wir uns zu rechtfertigen haben, wenn es uns und weshalb es uns besser geht. Es ist die Mehrheitsgesellschaft, die zu begründen hat und sich zu rechtfertigen hat, wenn sie behinderten Menschen ein System der Inklusion vorenthält. Es ist die Mehrheitsgesellschaft der nicht Unterprivilegierten, die sich zu rechtfertigen hat, wenn sie 1,7 Mio. Kinder und Jugendliche in Hartz IV belassen und sie um Bildungschancen beraubt, weil sie nicht genug für sie tut. Es ist die Mehrheitsgesellschaft, die sich zu rechtfertigen hat, wenn sie langzeitarbeitslosen Menschen einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor vorenthält oder pflegebedürftigen Menschen Personalschlüssel, bei denen man tatsächlich von gleicher Würde unter Gleichen sprechen kann.

Zu dieser Sichtweise von Gerechtigkeit, die Rosenbrock, Trabert oder Hengsbach in den letzten beiden Tagen aufgeworfen haben, passt, dass im Bereich des Sozialen immer weniger von der Einforderung von Hilfen als von der Einforderung von Menschenrechten die Rede war. Es geht um das Menschenrecht auf Teilhabe, es geht um das Recht auf Arbeit in einer Arbeitsgesellschaft, es geht um das Recht auf Bildung und es geht darum, zu thematisieren, warum so vielen Menschen in dieser Gesellschaft moralische Rechte vorenthalten werden.

Fragen wir, was konkret das politisch Unmögliche sein soll, das es möglich zu machen gilt, so waren es vor allen Dingen zwei Punkte, die in den Vorträgen und in einigen Workshops immer wieder auftauchten. Das eine war die Problematisierung der Tatsache, dass so gut wie alles und jedes heutzutage als Ware begriffen wird. Es waren Aussagen wie im Workshop zur gesundheitlichen Versorgung, wonach wir unsere Ziele solange nicht erreichen werden können, solange gesundheitliche Versorgung als Ware feilgeboten wird, oder Aussagen wie im Workshop zur Wohnungsnot, dass wir die Probleme solange nicht in den Griff bekommen werden, solange Wohnung eine Ware ist. Friedhelm Hengsbach verwies darauf, dass Marktgeschehen immer Individualisierung heiße. Marktförmige Organisationen hieße immer, Dinge individuell einzukaufen, die gewerblich angeboten würden. Für Friedhelm Hengsbach stellte sich damit die Frage, welche Güter und Dienstleistungen tatsächlich über einen Markt organisiert werden sollen und welche Güter und Dienstleistungen besser solidarisch finanziert, über die Gemeinschaft vorgehalten werden sollen, sei es Bildung, sei es Wohnen, sei es soziale Infrastruktur oder aber eine gesetzliche Rente im Unterschied zur Riesterrente. Es ist in der Tat die Frage, ob wir nicht langsam zu dem Schluss kommen sollten, dass sogenannte Mischsysteme, wie zuletzt die Riesterrente zeigte, in der Regel nicht funktionieren. Es stellt sich die Frage, ob wir zu der Frage, welche Dienstleistungen über einen Markt, der nach Profitregeln funktioniert, angeboten werden sollen und welche einem gemeinnützigen  Sektor vorbehalten sein sollen, in dem es gerade nicht möglich ist, Gewinne privat zu entnehmen,  nicht viel klarer werden müssen als bisher.

Die weitere Forderung nach dem Unmöglichen, die bei vielen Rednern auftauchte, war die der Umverteilung, Umverteilung als Voraussetzung für eine offensive Sozialpolitik, Umverteilung als Voraussetzung für eine kohärente Gesellschaft, Umverteilung als Voraussetzung für mehr Gleichheit und mehr Gerechtigkeit. Der Paritätische hat bereits 2011 Forderungen nach einer anderen Steuerpolitik erhoben, nach anderen Spitzensteuersätzen in der Einkommenssteuer, nach einer Erbschaftssteuer mit höherem Steueraufkommen, nach einer Vermögenssteuer und einer anderen Besteuerung von Kapitalerträgen und Gewinnen aus Transaktionen. Dass sich an der Richtigkeit dieser Positionierung bis heute nichts geändert hat, hat dieser Kongress noch einmal eindrücklich unterstrichen.  Wer diesen Positionen nicht aus Gründen der Gerechtigkeit folgen will, sollte es zumindest aus Gründen der Vernunft tun. Wir brauchen die Einnahmen in den öffentlichen Haushalten, um vor Ort eine lebendige Infrastruktur aufrecht zu erhalten, um all das finanzieren zu können, was unsere Mitgliedsorganisationen vor Ort für die Allgemeinheit für die Gemeinschaft leisten. Es darf nicht passieren, dass wir den Ast absägen, auf dem wir alle sitzen.

Um dies zu erreichen, gilt es Bündnisse zu schmieden, gilt es Forderungen zu bündeln, Forderungen von Alleinerziehenden, Forderungen von Menschen mit Behinderung oder Arbeitslosen, Rentnern und anderen, die auf diesem Kongress zugegen waren. Und es gilt wahrscheinlich auch Bündnisse über den sozialen Bereich im engeren Sinne hinaus in der Zivilgesellschaft zu schmieden, mit Gewerkschaften oder auch mit Kulturverbänden oder dem Sport.

23 Organisationen, Gewerkschaften, Sozial- und Fachverbänden, haben diesen ersten armutspolitischen Hauptstadtkongress mit ausgerichtet. Ich glaube ich spreche für uns alle, wenn ich feststelle, dass es zwei gute und wichtige Tage waren. Wir werden dranbleiben. Wir werden engagiert und beharrlich bleiben, wenn es darum geht Allianzen zu schließen und daran zu arbeiten, das Unmögliche möglich zu machen.

Download Resümee Dr. Ulrich Schneider

 

 


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