07.07.2016

Fachforum: Armut macht krank. Soziale Ursachen und Gegenstrategien

Von: Martina Huth
Prof. Dr. Gerhard Trabert (Armut und Gesundheit in Deutschland) Foto: Stephanie von Becker

Prof. Dr. Gerhard Trabert (Armut und Gesundheit in Deutschland) Foto: Stephanie von Becker

„Neues schaffen, heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten, heißt Neues schaffen.“

- Stéphane Hessel

I. Soziale Lage und Gesundheit

Ab- und Umbau des Sozialstaats

Seit Einführung der Hartz-Gesetze und der sogenannten Agenda 2010 sind über zehn Jahre vergangen, die Auswirkungen der mit diesen Reformen verbundenen Kürzungen staatlicher Leistungen sind gravierend: Ausweitung des Niedriglohnsektors, Einführung eines Sanktionssystems für Erwerbslose, Abschaffung des Arbeitslosengeldes u.a. Von diesem grundlegenden Ab- und Umbau des Sozialstaats und seines Sozialversicherungssystems ist auch das Gesundheitswesen betroffen. Die Ökonomisierung von Versorgungsbereichen, Forderungen nach mehr Eigenverantwortlichkeit, die Beschädigungen des Solidarprinzips der gesetzlichen Krankenversicherung und eine allgemeine Entsoldarisierung schreiten voran. Die Folgen sind ein allgemein erhöhtes Armutsrisiko durch Krankheit, Überschuldungen, medizinische Versorgungsausschlüsse, durch erhöhte Zuzahlungen für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel, für Krankenhausaufenthalte, für Pflege und vieles mehr. Besonders betroffen sind Erwerbslose, Alleinerziehende, Flüchtlinge, nicht krankenversicherte EU-Bürger/innen (vornehmlich aus osteuropäischen Ländern), Wohnungslose, Haftentlassene und zunehmend chronisch kranke Menschen.

Arme Menschen sterben früher

Aktuelle Veröffentlichungen des Robert Koch-Instituts u.a. zeigen erneut, dass ein enger Zusammenhang zwischen der sozialen und der gesundheitlichen Lage von Menschen besteht. In Deutschland lebende Frauen mit niedrigem sozioökonomischen Status (SES – Zum SES zählen u.a. Schulabschluss, Ausbildung, Beruf und Einkommen, kulturelle Praxis, Besitz von Kulturgütern, Wohnort, Eigentumsverhältnisse, finanzielle Liquidität.) haben eine etwa acht Jahre geringere Lebenserwartung und Männer sogar eine um rund elf Jahre geringere Lebenserwartung als Wohlhabende. Zudem ist Armut mit einem erhöhten Morbiditätsrisiko verknüpft.

31 Prozent der von Armut betroffenen Männer erreicht nicht einmal das 65. Lebensjahr. Dies bedeutet umgekehrt, dass die Chance 65 Jahre oder älter zu werden, mit zunehmenden Einkommen sukzessive zunimmt.

Es bestehen zudem komplexe Zusammenhänge zwischen der Erwerbssituation (prekär beschäftigt, erwerbslos), der Wohnsituation, dem sozialen Umfeld und den damit verbundenen Möglichkeiten zur Teilhabe am bzw. dem Ausschluss vom gesellschaftlichen Leben. Dabei beeinflusst - neben (bzw. als Teil) der sozialen Schichtzugehörigkeit - eine Vielzahl weiterer Faktoren den Gesundheitszustand eines Menschen: Schulden, Gewalterfahrungen, Umweltfaktoren, Migrationshintergrund, Geschlecht sowie das Gesundheitssystem selbst. Häufig befinden sich die Betroffenen in einem kaum zu durchbrechenden Teufelskreis. Denn: Armut macht krank und Krankheit macht arm.

II. Probleme und Herausforderungen

Bei vielen Patientinnen und Patienten ist die Sorge vor Schulden durch kostenaufwendige Therapien und die Angst vor dem sozialen Abstieg inzwischen größer, als die Angst vor einer lebensbedrohlichen Erkrankung wie Krebs. Das vorhandene, reguläre Versorgungsangebot ist für Menschen, die sich in einer prekären Lebenssituation befinden, zudem schwer zugänglich (hohe administrative Hürden, lange Wartezeiten, diskriminierendes Verhalten der Behörden/Einrichtungen). Geltende Gesetze sind zu kompliziert und Betroffene häufig verunsichert oder wissen nicht, welchen Versicherungsstatus sie besitzen. Behörden, Ämter und Krankenkassen informieren die Betroffenen nur unzureichend über ihre Rechte. Das Einklagen bestimmter medizinischer Behandlungen dauert zu lange und setzt eine Kenntnis über die Rechtslage voraus.

Zuzahlungen und hohe Kosten im Gesundheitswesen, die privat getragen werden müssen, führen dazu, dass Menschen auf zum Teil dringend notwendige Medikamente, Heil- und Hilfsmittel verzichten. Hohe Beitragsschulden, die durch die gesetzliche Versicherungspflicht entstehen, obwohl keine Behandlung in Anspruch genommen wurde, wirken auf Betroffene abschreckend. Ehemals privat oder auch gesetzlich Versicherte in prekären Lebenssituationen können oft nur unter einer gravierenden Verschuldung in die Krankenversicherung zurückkehren. EU-Bürger_innen ohne sozialversicherungsrechtliches Arbeitsverhältnis haben überhaupt keinen Anspruch auf Krankenversicherungsschutz. Ein eingeschränkter Versicherungsschutz - auch durch das AsylbLG - führt zu medizinischen Versorgungslücken. Aus Angst vor Konsequenzen (Abschiebung, Arbeitsplatzverlust, hohe Rechnungen) wird die medizinische Hilfe im regulären System dann erst in einer absoluten Notlage in Anspruch genommen.

III. Lösungsansätze und Gegenstrategien

In der Diskussion wurde deutlich, dass eine gesamtgesellschaftliche Strategie dringend notwendig ist, um der gesundheitlichen Chancenungleichheit in Deutschland entgegenzuwirken. Regelmäßig chronisch verlaufende Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Leiden, Diabetes, Krebs, Muskel-Skelett-Erkrankungen und in zunehmendem Maße psychische Erkrankungen sind bei Menschen der unteren sozialen Schichten überrepräsentiert. Die genannten Krankheiten ließen sich jedoch zu einem Großteil verhüten, zumindest aber in höheres Lebensalter verschieben.

Gesundheitspolitik ist mehr als die Gesetze, die vom Gesundheitsministerium verabschiedet werden. Gute Gesundheitspolitik ist vor allem auch eine soziale Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Umwelt- und Wohnungspolitik, und – last but not least - auch eine gute medizinische Versorgung für alle.

Kritik des Sprachgebrauchs: Die Sprache der Politik und der Medien darf nicht kritiklos übernommen werden. Als negative Beispiele wurden benannt: bildungsferne Familien, sozial Schwache, Illegale, Wirtschaftsflüchtlinge. Sprache ist ein beliebtes politisches Mittel zur öffentlichen Meinungsbildung. Es muss darüber aufgeklärt werden, dass über den (insbesondere neoliberalen) Sprachgebrauch häufig soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen eingeleitet werden. Es braucht stattdessen eine von Respekt und Wertschätzung geprägte Kommunikation.

Was braucht es für die Zukunft?

1. Die strukturellen Ursachen für Armut müssen benannt, kritisiert und skandalisiert werden. Es müssen neue Inklusionsstrukturen geschaffen werden.

2. Gesundheitsförderliche Gesamtpolitik (Health in All Policies): Verminderung sozial bedingter Ungleichheit ist Aufgabe sämtlicher (Sozial-)Politikfelder.

3. Interventionen zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheits- und Lebenschancen sind vor allem dann erfolgreich, wenn sie sich der Entwicklung und Stärkung innerer und äußerer Ressourcen widmen.

4. Empowerment: Senkung psychosozialer Belastungen und Stärkung von Ressourcen wie Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeit, Einbindung in soziale Netze, „dem Tun einen Sinn“ geben. Gesundheitsförderung in den Lebenswelten bedeutet, Menschen dazu zu befähigen, selbst zu erkennen, dass sie für sich und ihre etwas Umwelt tun können, um reale Verbesserungen zu erzielen (Veränderung von Wahrnehmung, Verhalten und Strukturen).

5. Einführung des Begriffs der „Gleichwürdigkeit“ in die deutsche Sprache (nach Jesper Juul, dänischer Familientherapeut). „Gleichwürdigkeit“ ist nicht zu verwechseln mit Gleichheit. Gleichwürdigkeit sollte als neuer Maßstab für zwischenmenschliche Beziehungen geschaffen werden, Menschen müssen sich auf Augenhöhe begegnen: Entwicklung von Subjekt-Subjekt-Beziehungen statt Subjekt-Objekt-Beziehungen.

Konkrete Maßnahmen

1. Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung (für alle),

2. Bundesweite Einführung der elektronischen Gesundheitskarte für Geflüchtete und Asylsuchende,

3. Konsequenter Ausbau langfristiger, bundesweiter Programme zur Gesundheitsförderung (Lebenswelt-/Setting-Ansatz): Ziel des im Jahr 2015 verabschiedeten Präventionsgesetzes ist es, sozial bedingte und geschlechtsbezogene Ungleichheit von Gesundheitschancen zu vermindern. Die finanziellen Mittel der gesetzlichen Krankenkassen für verhältnispräventive Maßnahmen wurden relevant erhöht. Diese Chance muss genutzt werden. Insbesondere muss der Lebenswelt-Ansatz flächendeckend ausgebaut und gestärkt werden in Kitas, Schulen, Betrieben, Kiez/Quartier.

4. Niederschwellig angelegte medizinische Sprechstunden „vor Ort“ wie das „Mainzer Modell“ und die „Ambulanz ohne Grenzen“ (vgl. www.gesundheit-ein-menschenrecht.de). Angebot von Sprechstunden in sozial benachteiligten Wohngebieten (z. B. Vorsorgeuntersuchungen, Impfangebote).

5. Interdisziplinäre Versorgungskonzepte umsetzen: Zusammenarbeit und Verzahnung von sozialer Arbeit, Pädagogik, Psychologie, Gesundheitspflege und Medizin.

Fazit

Chronisch kranke Menschen rutschen häufig in das Hartz IV-System und somit in Armut ab. Armut wiederum macht krank bzw. noch kränker. Die entsprechenden Zusammenhänge müssen immer wieder aufgezeigt werden und den Ursachen von Armut und Krankheit entschieden entgegen getreten werden.

Es geht nicht um die Etablierung einer Armutsmedizin. Diese muss überflüssig gemacht werden. Es geht auch nicht um mehr Projekte und Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung. Es geht um eine gesundheitsförderliche Gesamtpolitik, die allen Menschen zugutekommt. Dies kann erreicht werden, indem die verursachenden gesellschaftsstrukturellen und sozialpolitischen Ausgrenzungsmechanismen abgeschafft werden. Alles, was politisch gewollt ist, ist auch machbar.

Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender, Der Paritätische Gesamtverband

Prof. Dr. Gerhard Trabert, Armut und Gesundheit in Deutschland e.V.

Moderation: Martina Huth, Referentin, Der Paritätische Gesamtverb

Download Zusammenfassung des Fachforums

Download Präsentation Prof. Dr. Rolf Rosenbrock

Download Präsentation Prof. Dr. Gerhard Trabert


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