08.07.2016

Vortrag: Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung: Warum die Regierenden eine unsoziale Politik machen

Von: Prof. Dr. Christoph Butterwegge
Prof. Dr. Christoph Butterwegge Foto: Stephanie von Becker

Prof. Dr. Christoph Butterwegge Foto: Stephanie von Becker

Hierzulande werden die Reichen immer reicher und die Armen immer zahlreicher. Seit geraumer Zeit spaltet sich die Gesellschaft und nimmt die soziale Ungleichheit hinsichtlich der Verteilung von Einkommen und Vermögen enorm zu. Da bezieht die reichste Unternehmerfamilie des Landes, die Familie Quandt/Klatten, in diesem Frühsommer eine Rekorddividende in Höhe von 994,7 Mio. Euro nur aus BMW-Aktien, wohingegen mehrere hunderttausend alleinerziehende Mütter im Arbeitslosengeld-II-Bezug kaum wissen, wie sie am 20. des Monats noch etwas Warmes für ihre Kinder auf den Tisch bringen sollen.

Dennoch war „Armut“ jahrzehntelang ein Tabuthema, das die bundesdeutsche Öffentlichkeit höchstens in der Vorweihnachtszeit beschäftigte. Zwar avancierte es mit dem im Volksmund „Hartz IV“ genannten Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt seit dem Jahreswechsel 2004/05 vorübergehend zu einem Topthema, welches die Teilnehmer vieler TV-Talkshows geradezu zerredeten, ohne dass Parlament und Regierung jedoch wirksame Schritte zur Überwindung der Armut unternahmen.

Mehr als Lippenbekenntnisse hört man im Kampf gegen die Armut von den etablierten Parteien und regierenden Politikern nicht. Daher lautet die politische Kardinalfrage im Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung für mich: Weshalb beschäftigt sich die Öffentlichkeit der Bundesrepublik, handle es sich nun um Parteien, Massenmedien oder Wissenschaftler, kaum mit der Zerklüftung unserer Gesellschaft, und warum tun die regierenden Politiker so wenig gegen die Armut? Dafür gibt es zahlreiche Gründe, von denen einige im Folgenden erörtert werden sollen.

Systemgrenzen der Armutsbekämpfung: Kapitalismus und Neoliberalismus

Die soziale Ungleichheit ist aufgrund des bei Unternehmern konzentrierten Privateigentums an Produktionsmitteln und der weitgehenden Mittellosigkeit vieler Arbeitskraftbesitzer für kapitalistische Industriegesellschaften konstitutiv. Als ein dialektisches Gegensatzpaar bedingen sich Armut und Reichtum im Kapitalismus wechselseitig, sind mithin systembedingt. Beide erscheinen unverzichtbar für dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssystem: Armut ist eine Drohkulisse, ein Druckmittel und ein Disziplinierungsinstrument gegenüber Menschen, die sich den Marktmechanismen entziehen und der Konkurrenz nicht unterwerfen, während Reichtum als Lockmittel und Belohnung für die von den Wirtschaftssubjekten geforderte Leistungsbereitschaft wirkt.

Armut ist funktional, d.h. für die Aufrechterhaltung der bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse erforderlich, diszipliniert sie doch unmittelbar Betroffene, Erwerbslose und Beschäftigte gleichermaßen. Die (Angst vor der) Armut ist ausgesprochen nützlich für den Fortbestand des Kapitalismus. Sie zwingt davon Betroffene, mehr zu leisten, und zeigt besser Situierten, was ihnen droht, wenn sie die Regeln der kapitalistischen Hochleistungs- und Konkurrenzgesellschaft nicht befolgen. Dies bedeutet jedoch weder, dass Armut immer von jedem einzelnen politisch Verantwortlichen gewollt, noch gar, dass sie für das bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ungefährlich ist: Wenn es zu größeren sozialen Verwerfungen kommt, steigt die Gefahr, dass Drogenmissbrauch, (Gewalt-)Kriminalität und Brutalität zunehmen.

Schließlich hatte schon Georg Friedrich Wilhelm Hegel in seiner „Rechtsphilosophie“ konstatiert, dass die bürgerliche Gesellschaft nie reich genug sein werde, um „dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern.“ Armut entsteht nicht trotz, sondern durch Reichtum. Bertolt Brecht hat es 1934 in einem Kindergedicht folgendermaßen ausgedrückt: „Armer Mann und reicher Mann / standen da und sah’n sich an. / Und der Arme sagte bleich: / Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich.“ Wenn zahllose Geringverdiener unter dem Druck der Finanzkrise ihre Girokonten überziehen und hohe Dispozinsen zahlen müssen, werden diejenigen noch reicher, denen die Banken gehören. Und wenn noch mehr Familien aus demselben Grund beim Lebensmittel-Discounter einkaufen, werden die Eigentümer von Ketten wie Aldi oder Lidl, die ohnehin zu den vermögendsten Deutschen gehören, noch reicher.

Armut kann im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung nicht durch einen sich vermehrenden Reichtum beseitigt werden. Genau das verspricht aber der Neoliberalismus, und vor allem die Begüterten glauben es natürlich gern. Als neoliberal bezeichnet man eine Wirtschaftstheorie, die den Markt glorifiziert und zu einer Sozialphilosophie, ja zu einer politischen Zivilreligion geworden ist, die alle Poren der Gesellschaft durchdringt. Durch die globale Finanzkrise 2008/09 geriet der Neoliberalismus zwar in eine Legitimationskrise, seine Hegemonie, d.h. die öffentliche Meinungsführerschaft hat er dadurch aber nicht eingebüßt. Nach der neoliberalen Trickle-down-Theorie, die auch als „Pferdeäpfel-Ideologie“ bekannt ist, muss man, um den Spatzen etwas Gutes zu tun, die Vierbeiner mit dem besten Hafer füttern, damit die Vögel dessen Körner aus ihrem Kot herauspicken können. Selbstverständlich wäre den Sperlingen mehr geholfen, wenn man sie direkt füttern würde.

Weshalb heben Parlament und Regierung die Regelsätze der Sozialtransfers nicht stärker an, um Erwerbslosen und ihren Familien, Kindern und Senioren ein Leben in Würde zu ermöglichen? Würden die Transferleistungen steigen, wäre mit dem „Lohnabstandsgebot“, das es offiziell gar nicht mehr gibt, die Konkurrenzfähigkeit des „eigenen“ Wirtschaftsstandortes gefährdet. Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung – so lautet denn auch das Programm sämtlicher Koalitionen auf Bundesebene, die eine Regierungspolitik nach dem Matthäus-Prinzip machen: „Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht viel hat, dem wird das Wenige auch das noch genommen“, heißt es sinngemäß im Evangelium des Matthäus.

Im digitalen Finanzmarktkapitalismus besteht der Klassenantagonismus von Kapital und Arbeit fort, der nicht darauf beschränkte Gegensatz von Arm und Reich verschärft sich allerdings erheblich, tritt deutlicher als in früheren Entwicklungsphasen der bürgerlichen Gesellschaft zutage und überlagert ihn. Umso mehr müssen Armut, sofern sie nicht auf Einzelfälle beschränkt ist und man ein persönliches Versagen der davon Betroffenen unterstellen kann, wie Reichtum, der ein vernünftiges Maß übersteigt, in einer parlamentarischen Demokratie öffentlich gerechtfertigt werden. Dies geschieht primär über das meritokratische Prinzip, wonach es Leistungsträgern in der Sozialen Marktwirtschaft bessergehen soll und bessergeht als weniger Leistungsfähigen oder gar „Leistungsverweigerern“, „Faulenzern“ und „Sozialschmarotzern“.

Dass es sich hierbei um einen Mythos handelt, spüren immer mehr Bürger. Ihnen bleibt nicht verborgen, dass sich die sog. Leistungseliten auf geradezu inzestuöse Weise aus ihrem eigenen Herkunftsmilieu reproduzieren und eine „geschlossene Gesellschaft“ in der fragmentierten Gesamtgesellschaft bilden. Gleichzeitig vertreten diese ihre Interessen heute auch sehr viel massiver und rücksichtsloser als in der „alten“ Bundesrepublik, weil sich seither die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit spürbar zu ihren Gunsten geändert und durch den Aufstieg des Neoliberalismus ideologische Deutungsmuster an Bedeutung gewonnen haben, die ihre materiellen Privilegien legitimieren.

Eine wichtige Rolle spielt die Transformation des Gerechtigkeitsempfindens eines Großteils der Bevölkerung durch den Neoliberalismus. Standen früher die Bedarfs- und die Verteilungsgerechtigkeit als für einen Sozialstaat konstitutive Orientierungsmarken im Mittelpunkt der Diskussion, bestimmen heute fragwürdige Termini wie „Leistungsgerechtigkeit“, „Teilhabegerechtigkeit“, „Chancengerechtigkeit“ und „Generationengerechtigkeit“ die öffentliche Debatte. Als politische Kampfbegriffe des Neoliberalismus tragen sie dazu bei, dass soziale Ungleichheit von der Bevölkerungsmehrheit akzeptiert wird. In der neoliberalen Weltsicht erscheint Armut folglich als gesellschaftliches Problem, vielmehr als selbst verschuldetes Schicksal, das im Grunde eine gerechte Strafe für den fehlenden Willen oder die Unfähigkeit darstellt, sich bzw. seine Arbeitskraft auf dem Markt mit ausreichendem Erlös zu verkaufen, wie der Reichtum umgekehrt als angemessene Belohnung für eine Leistung betrachtet wird, die im Falle eines Börsenspekulanten auch ganz schlicht darin bestehen kann, den guten Tipp eines Anlageberaters zu befolgen.

Galt die soziale Ungleichheit früher als gottgegeben, wird sie aufgrund der neoliberalen Hegemonie entweder legitimiert, indem man sie zur notwendigen Voraussetzung eines produktiven Wirtschafts- und Gesellschaftssystems bzw. zu einer Triebkraft des wissenschaftlich-technischen Erkenntnisfortschritts hochstilisiert, oder sie wird naturalisiert, d.h. als zwangsläufiges Resultat einer unterschiedlichen Intelligenz bzw. genetischen Ausstattung der Individuen hingestellt.

Die doppelte Ausgrenzung der Armen: Resignation, Rückzug und geringere politische Repräsentation

Wenn der Sozialstaat durch eine neoliberale Reformpolitik zerstört und die Gesellschaft in wenige Gewinner und zahllose Verlierer gespalten wird, schwindet bei den Letzteren das Vertrauen in die Institutionen der parlamentarischen Demokratie. Die soziale Spaltung der Gesellschaft zieht fast zwangsläufig eine politische Spaltung nach sich, die als tiefe Krise des parlamentarischen Repräsentativsystems erscheint: Verarmte und von Armut bedrohte Bevölkerungsschichten wie (Langzeit-)Erwerbslose, Transferleistungsbezieher und prekär Beschäftigte beteiligen sich kaum noch an demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen, gehen beispielsweise nur selten oder gar nicht mehr zu Wahlen, wohingegen die politische Partizipation der Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen ungebrochen ist.

Mit der sozialen Ungleichheit wächst also die politische Ungleichheit, von der die Öffentlichkeit aber noch weniger Kenntnis nimmt als von Ersterer. Bei der Bundestagswahl im September 2013 prägte sich die soziale Schieflage bei der Wahlabstinenz deutlich aus: In mehreren deutschen Großstädten betrug die Differenz zwischen sozial benachteiligten und Nobelvierteln über 40 Prozent. So lag die Wahlbeteiligung in Köln-Chorweiler, einer Hochhaussiedlung mit ganz wenigen Einfamilienhäusern, nicht einmal bei 42,5 Prozent, während sie in Köln-Hahnwald, einem noblen Villenquartier, fast 89 Prozent erreichte. Immer mehr Arbeitslose und Arme verweigern sich dem Wahlakt aufgrund der verständlichen Überzeugung, mit ihrer Stimmabgabe wenig bewirken und nichts bewegen zu können. Schließlich haben die etablierten Parteien ihre existenziellen Probleme in allen Regierungskonstellationen der vergangenen Jahrzehnte mehr oder weniger ignoriert.

„Wahlmüdigkeit“ ist genauso wie „Politikverdrossenheit“ ein irreführender Begriff, um die Reaktion der Betroffenen zu charakterisieren, denn beide schieben die Schuld den angeblich davon Befallenen zu, statt sie im politischen, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu suchen. Tatsächlich handelt es sich um eine politische Repräsentationskrise, was daraus hervorgeht, dass die zunehmende Wahlabstinenz sich nicht gleichmäßig über alle Schichten verteilt, sondern vorwiegend die Konsequenz einer prekären Existenz ist.

Arme sind – wenn man so will – Fremde im eigenen Land, werden sie doch häufig nicht bloß sozial ausgegrenzt, sondern auch politisch ins Abseits gedrängt. Wie den meisten Zuwanderern bleibt einheimischen Transferleistungsbeziehern eine politische Repräsentation, die den Namen verdient, in aller Regel verwehrt. Auch fehlt es ihnen aufgrund des Ressourcenmangels an wirksamen Partizipationsmöglichkeiten. Sie kommen bei der gesellschaftlichen Teilhabe ebenso zu kurz wie bei der Verteilung von materiellen Ressourcen, Finanzmitteln und begehrten Gütern. Insofern kann man durchaus von einer doppelten Ausgrenzung der Armen in Deutschland sprechen.

Zwar gewährt man den Armen heute – anders als im Wilhelminischen Kaiserreich, wo sie noch das preußische Dreiklassenwahlrecht benachteiligte und der Bezug staatlicher Fürsorgeleistungen mit dem Wahlrechtsentzug verbunden war –, die vollen Staatsbürgerrechte, enthält ihnen aber die für deren Wahrnehmung erforderlichen finanziellen Mittel vor. Ihre daraus resultierende Neigung, sich nicht mehr (regelmäßig) an Wahlen und Abstimmungen zu beteiligen, stärkt wiederum ausgerechnet jene politischen Kräfte, die um eine Sicherung der Privilegien kapitalkräftiger Interessengruppen bemüht sind. Die etablierten Parteien bemühen sich gar nicht mehr um die Stimmen bzw. die Zustimmung der Unterprivilegierten, Prekarisierten und Pauperisierten, weil sie wissen, dass diese ohnehin nicht zur Wahl gehen. So entsteht ein Teufelskreis sich wechselseitig verstärkender Wahlabstinenz sozial Benachteiligter und einer deren Interessen vernachlässigenden Regierungspraxis, wovon wiederum rechtspopulistische Demagogen profitieren, die sich mit Erfolg als Vertreter der „kleinen Leute“ ausgeben.

Die unheimliche Macht der Reichen und Hyperreichen

Wer reich ist, ist meistenteils auch einflussreich. Großer privater Reichtum eröffnet die Möglichkeit, wirtschaftlich und politisch Macht auszuüben, wie Armut umgekehrt bedeutet, ökonomische und soziale Ohnmacht zu erfahren. Großunternehmer, Kapitalanleger, Industriekonzerne, Banken, Versicherungsgesellschaften und ihre Interessenverbände bestimmen maßgeblich die staatliche Politik, also darüber, wohin sich die Gesellschaft entwickelt. Parteispenden, Während sich die Fähigkeit der Armen zur Interessenartikulation bzw. ihre Möglichkeit zur politischen Repräsentation auf einem Tiefpunkt befindet, schwindet die Bereitschaft der gesellschaftlichen Eliten zu ihrer materiellen Integration.

Paradoxerweise führt die gesellschaftliche Normalisierung der Armut nicht zur Inkludierung, sondern zu einer Stigmatisierung, Marginalisierung und Kriminalisierung der Armen. Reiche und Hyperreiche möchten den Druck des Sozialstaates auf die Armen, denen pauschal Missbrauchsabsicht unterstellt wird, noch erhöhen, ihrerseits jedoch vom Druck des Steuerstaates befreit werden. Ein wahres Lehrstück erfolgreicher Lobbyarbeit bietet daher die Reform der Erbschaftsteuer für Firmenerben. Selten haben Wirtschaftsvertreter so massiv Einfluss genommen wie bei der vom Bundesverfassungsgericht geforderten gesetzlichen Neuregelung der Erbschaftsteuer für Firmenerben.

Mitglieder deutscher Unternehmerdynastien, die man in Russland, der Ukraine oder Griechenland als Oligarchen bezeichnen würde, können seit 2009 unter bestimmten Voraussetzungen ganze Firmenimperien an ihre Nachfolger übertragen, ohne dass diese dafür Erbschaft- bzw. Schenkungsteuer entrichten müssten. Möglich sind eine „Regelverschonung“ von 85 Prozent des Betriebsvermögens, wenn die Lohnsumme fünf Jahre lang halbwegs konstant gehalten wird, sowie eine „optionale Vollverschonung“, wenn die Lohnsumme sieben Jahre lang etwa gleich hoch bleibt. Hat das Unternehmen weniger als 20 Beschäftigte, entfällt die Nachweispflicht dafür.

In seinem Urteil vom 17. Dezember 2014 räumte das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber zwar das Recht ein, Betriebsvermögen aus gewichtigen Sach- oder Gemeinwohlgründen gegenüber anderen Vermögensarten zu bevorzugen. Es bemängelte aber die Freistellung der meisten Unternehmen von der Lohnsummenpflicht, die Begünstigung sehr großer Vermögen sowie die Verwaltungsvermögensregelung: Von dem begünstigten Betriebsvermögen dürfen (im Fall der Regelverschonung) 50 Prozent bzw. (im Fall der Vollverschonung) 10 Prozent aus Verwaltungsvermögen bestehen.

Finanzminister Wolfgang Schäuble legte im Februar 2015 seine Eckwerte zur Neuregelung der Erbschaftsteuer für Unternehmensvermögen vor. Das begünstigte Vermögen sollte nunmehr seinem Hauptzweck nach einer originär land- und forstwirtschaftlichen, gewerblichen oder freiberuflichen Tätigkeit dienen. Waren bisher Betriebe mit 20 oder weniger Beschäftigten von der Lohnsummenpflicht befreit, wollte Schäuble auf die Prüfung der Lohnsumme bei Unternehmen mit einem Wert bis 1 Mio. Euro verzichten. Für die Verschonung des begünstigten Vermögens sollte eine Obergrenze in Höhe von 20 Mio. Euro eingezogen werden. Wenn es diese Freigrenze übersteigt, hätte das Finanzamt im Rahmen einer „individuellen Bedürfnisprüfung“ zu ermitteln, ob der Begünstigte die Steuerschuld aus dem mit übertragenen (nichtbetrieblichen) oder dem sonstigen, bereits vorhandenen (Privat-)Vermögen begleichen kann. Zumutbar wäre der Einsatz von 50 Prozent des verfügbaren Vermögens.

Obwohl sich Schäuble nach eigenen Worten auf „minimalinvasive Korrekturen“ beschränkte, liefen Wirtschaftslobbyisten, allen voran die gemeinnützige Stiftung Familienunternehmen und der Verband „Die Familienunternehmer – ASU“, monatelang dagegen Sturm. Unternehmerverbände schürten die Angst vor ausländischen „Heuschrecken“, die zuhauf mittelständische deutsche Firmen übernehmen könnten, wenn Schäubles Plänen nicht Einhalt geboten würde.

Während führende SPD-Politiker diesen vorbehaltlos zustimmten, lehnten die CSU und der CDU-Wirtschaftsflügel die Bagatellgrenze (1 Mio. Euro), den Schwellenwert für die Verschonungsbedürfnisprüfung (20 Mio. Euro) sowie den Rückgriff auf das Privatvermögen ab. Widerspruch regte sich auch bei den Ländern. Neben dem CSU-regierten Bayern, das eine Regionalisierung der Erbschaft- und Schenkungsteuer favorisiert, um durch Steuerdumping noch mehr Großunternehmer ins Land locken zu können, wollte auch das grün-rot regierte Baden-Württemberg den Unternehmerfamilien mit einer auf 100 Mio. Euro angehobenen Prüfschwelle weiter entgegenkommen.

Schäuble, der bei den Verhandlungen über Kredite für Griechenland als Hardliner aufgetreten war, knickte im Streit um die Neuregelung der Erbschaft- bzw. Schenkungsteuer rasch ein. Zuerst ließ er die am Unternehmenswert festgemachte Bagatellgrenze fallen und setzte an deren Stelle die Beschränkung auf Betriebe mit höchstens drei Beschäftigten als Obergrenze für die Ausnahme von der Lohnsummenregelung. Unternehmen, die qua Gesellschaftsvertrag oder Satzung für Konzerne typischen Kapitalbindungen unterliegen, billigte Schäuble eine höhere Prüfschwelle von 40 Mio. Euro zu. Schließlich gewährte er den Erwerbern von Großvermögen oberhalb der Prüfschwellen ein Wahlrecht im Hinblick auf die Verschonungsbedarfsprüfung: Wer sein Privatvermögen nicht einsetzen und/oder nicht offenlegen möchte, wird auch nur moderat besteuert.

Auf dem von der Stiftung Familienunternehmen nicht zum ersten Mal mit der Bundeskanzlerin als Gastrednerin veranstalteten „Tag des deutschen Familienunternehmens“ am 12. Juni 2015 in Berlin wies Angela Merkel die „werten Familienunternehmer“ auf das Struck’sche Gesetz hin, wonach kein Gesetzentwurf unverändert aus dem Bundestag herauskommt, und versprach, „dass wir uns Mühe geben, Regelungen zu finden, die Ihnen helfen.“ Der großkoalitionäre Regierungsentwurf, der im Juli 2015 vorlag, machte den Unternehmerfamilien tatsächlich noch mehr Zugeständnisse. So wurde die Freigrenze, bis zu der keine Verschonungsbedarfsprüfung erfolgt, nochmals auf 26 Mio. Euro (für normale Familienunternehmen) bzw. 52 Mio. Euro (für Familienunternehmen mit Konzernstrukturen) angehoben.

Selbst diese weitreichenden Zugeständnisse der SPD genügten manchen Unternehmerfamilien, der CSU und dem CDU-Wirtschaftsflügel noch immer nicht. Vielmehr kündigte der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer den mühsam gefundenen Kompromiss zwischen den Regierungsparteien im Herbst 2015 wieder auf, blockierte das Gesetzgebungsverfahren und trat mit seinen Koalitionspartnern in Verhandlungen ein, um weitere Steuervergünstigungen für Firmenerben zu erreichen. Dasselbe Prozedere wiederholte sich, als sich die für Finanzpolitik zuständigen Fraktionsspitzen nach weiteren Konzessionen an die CSU im Februar 2016 erneut geeinigt hatten.

Für die bayerische Regierungspartei wurde es offenbar zu einer Prestigefrage, den mit einem goldenen Löffel im Mund geborenen Nachwuchs von Unternehmerfamilien ganz von der Erbschaftsteuer zu befreien. Schließlich hatte Baron August von Finck der CSU vor der Landtagswahl 2008, als die Debatte über Steuererleichterungen für Firmenerben begann, eine Wahlkampfspende in Höhe von 820.000 Euro zukommen lassen. Nur ein Jahr später gelangte dieser Eigentümer des Gastronomiekonzerns Mövenpick durch seine Millionenspende an die FDP zu trauriger Berühmtheit, weil beide so großzügig von ihm alimentierten Parteien gemeinsam mit der CDU die Mehrwertsteuer für Hotelübernachtungen von 19 auf 7 Prozent senkten.

Nach zahlreichen Expertenrunden und Koalitionsgipfeln, auf denen sich CDU, CSU und SPD nicht einigen konnten, verständigten sich Wolfgang Schäuble, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer erst kurz vor Ablauf der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Frist (30. Juni 2016) auf einen stark modifizierten Gesetzentwurf. Was haben die mächtigen Unternehmerfamilien durch massive Einflussnahme ihrer Lobby erreicht, bevor der Bundesrat das Gesetzesvorhaben am 8. Juli 2016 mit den Stimmen schwarz-grün, rot-grün und rot-rot-grün regierter Länder stoppte und den Vermittlungsausschuss mit dem Ziel einer „grundlegenden Überarbeitung“ anrief?

1. Waren ursprünglich Betriebe mit bis zu 20 Beschäftigten von der Pflicht befreit, die Lohnsumme halbwegs konstant zu halten, und hatte sich die Regierung wegen der Kritik des Bundesverfassungsgerichts an dieser Privilegierung von 95 Prozent aller Firmenerben zuerst eine Bagatellgrenze von drei Beschäftigten eingezogen, nachdem Schäuble sogar nur bei Unternehmen mit einem Wert bis 1 Mio. Euro auf die Prüfung der Lohnsumme verzichten wollte, stieg sie am Ende wieder auf fünf Beschäftigte.

2. gehören Beteiligungen an Holdings in Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union bzw. des Europäischen Wirtschaftsraums zum Betriebsvermögen. Dies verdeutlicht zur Genüge, dass es den Lobbyisten und der CSU als ihrem parlamentarischen Arm nicht etwa – wie gebetsmühlenartig behauptet – um die Rettung des kleinen deutschen Handwerkbetriebs und den Erhalt seiner Arbeitsplätze ging.

3. blieb es vorerst bei der Unterscheidung zwischen dem begünstigungsfähigen Betriebs- und dem nur eingeschränkt begünstigungsfähigen Verwaltungsvermögen. Wolfgang Schäubles Eckpunkten zufolge sollte das begünstigte Vermögen seinem Hauptzweck nach einer originär land- und forstwirtschaftlichen, gewerblichen oder freiberuflichen Tätigkeit dienen.

4. könnten Erben großer Betriebsvermögen zwischen einer Verschonungsbedarfsprüfung und dem Abschmelzmodell, also der Möglichkeit wählen, das eigene (Privat-)Vermögen nicht offenlegen zu müssen.

5.  werden Unternehmen aufgrund einer Änderung des Bewertungsgesetzes auf dem Papier „billiger“, was mit dem niedrigen Zinsniveau begründet wird und die Belastung der Firmenerben durch die Erbschaftsteuer erheblich senkt.

6. werden Firmen, die wie Konzerne im Familienbesitz per Satzung oder Gesellschaftervertrag festgelegte Ausschüttungs- und Entnahmerestriktionen, Verfügungsbeschränkungen und Abfindungsregeln kennen, durch einen Vorwegabschlag von 30 Prozent auf den Übertragungswert leichter steuerfrei vererb- oder verschenkbar.

7. gilt im Todesfall ein Rechtsanspruch auf eine zinslose Stundung der Erbschaftsteuer für die Dauer von zehn Jahren.

Nun muss der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat nach einer Lösung des nicht enden wollenden Konflikts suchen, sofern das Bundesverfassungsgericht die exzessive Privilegierung der Unternehmenserben nicht selbst durch eine Übergangsregelung oder eine zweite Fristsetzung (vorläufig) unterbindet. Höchstwahrscheinlich kann man jedoch auch in Zukunft einen ganzen Konzern übertragen bekommen, ohne dafür auch nur einen Cent betriebliche Erbschaft- bzw. Schenkungsteuer zahlen zu müssen. So bietet sich die Unternehmensübergabe an Kinder an, die noch kein nennenswertes Vermögen besitzen und die Verschonungsbedarfsprüfung problemlos bestehen. Nur beim Abschmelzmodell, das reiche Erben wählen können, um ihre Vermögensverhältnisse nicht offenlegen zu müssen, und ihnen trotzdem einen mit steigendem Unternehmenswert allerdings stufenartig sinkenden Steuernachlass gewährt, hat die SPD eine Verschonungsobergrenze in Höhe von 90 Mio. Euro durchgesetzt. Von einer Flat-tax-Lösung, wie sie den Bündnisgrünen vorschwebt (15 Prozent Erbschaft- bzw. Schenkungsteuer auf jegliches Vermögen) würden tendenziell ebenfalls sie Reichsten profitieren.

Die politisch motivierte Fehlperzeption der Armut: Regierende sehen nicht, was sie nicht sehen wollen

Im wohlhabenden, wenn nicht reichen Deutschland wird die Armut häufig gar nicht oder falsch wahrgenommen. CDU, CSU und SPD verschließen die Augen vor dem selbst mitverschuldeten Problem einer wachsenden Armut, wie ihr „Deutschlands Zukunft gestalten“ überschriebener Koalitionsvertrag für die laufende Legislaturperiode zeigt. Dort kommen das Wort „Reichtum“ nur als „Ideenreichtum“ bzw. als „Naturreichtum“ und der Begriff „Vermögen“ nur als „Durchhaltevermögen“ bzw. im Zusammenhang mit der Vermögensabschöpfung bei Kriminellen vor.

„Armut“ taucht in dem Dokument, das die Grundlage der Regierungspolitik bildet, zwar zehn Mal auf, aber ausnahmslos in fragwürdiger Weise. Zuerst firmiert das Motto „Altersarmut verhindern – Lebensleistung würdigen“ als Zwischenüberschrift zur Rentenpolitik der Regierungskoalition. Darunter heißt es, die sozialen Sicherungssysteme, auf die sich die Menschen in unserem Land verlassen können müssten, schützten vor Armut und seien Ausdruck des Zusammenhalts unserer Gesellschaft. Beide Formulierungen legen den Schluss nahe, dass Altersarmut in Deutschland (noch) nicht existiert, denn von der Notwendigkeit ihrer Bekämpfung, Verringerung oder Beseitigung ist nirgends die Rede.

CDU, CSU und SPD wollen „den Kampf gegen Bildungsarmut fortsetzen und intensivieren.“ Während von Kinder- und Jugendarmut an keiner Stelle die Rede ist, erscheint der Begriff „Bildungsarmut“, mit dem im Koalitionsvertrag die Alphabetisierungsbemühungen von Bund und Ländern begründet werden, insofern missverständlich, als er zur Verwechslung von Ursache und Wirkung geradezu einlädt. Trotz verbreiteter Vorurteile sind Menschen nicht wegen mangelnder Bildung arm – fast drei Viertel der Beschäftigten im Niedriglohnsektor verfügen über einen Berufs-, 11 Prozent sogar über einen Hochschulabschluss –, Armut führt vielmehr zu ihrer Benachteiligung im Bildungsbereich.

Dem hierzulande vorherrschenden Armutsverständnis gemäß wird das Phänomen im Koalitionsvertrag hauptsächlich mit der sog. Dritten Welt in Verbindung gebracht. Nicht weniger als vier Mal taucht Armut in diesem Zusammenhang auf, der jedoch verdeckt, dass sie in einem reichen Land wie der Bundesrepublik – wenn auch in anderer, weniger dramatisch wirkender Form – gleichfalls existiert und für die davon Betroffenen hier sogar beschämender, demütigender und erniedrigender sein kann. Forschung und Forschungskooperation (besonders mit Afrika) nennen CDU, CSU und SPD als Instrumente, mit denen der „Teufelskreis von Armut und Krankheit in Entwicklungsländern“ durchbrochen werden könne. Folgerichtig setzen sich die Regierungsparteien für „nachhaltige Entwicklung und Armutsbekämpfung“ ebendort ein. Ziel der großkoalitionären Entwicklungspolitik sei es, „auf der Grundlage unserer Werte und Interessen (!?) weltweit Hunger und Armut zu überwinden.“ In den ärmsten Ländern der Erde sollen die Anstrengungen zur „Überwindung von Hunger und Armut“ verstärkt werden.

Gleich drei Mal wird im Koalitionsvertrag das Wort „Armutswanderung“ bzw. „Armutsmigration“ verwendet. Gemeint waren Bulgaren und Rumänen, denen man eine „ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Sozialleistungen“ vorwarf, wodurch deutsche Kommunen übermäßig belastet würden. Kurzum: Glaubt man dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, gibt es in Deutschland überhaupt keine Armut, es sei denn, dass sie durch unerwünschte Zuwanderer „importiert“ wird. Die wachsende Armut wird jedoch weder von Arbeitsmigranten aus EU-Ländern noch von Flüchtlingen aus der sog. Dritten Welt eingeschleppt, sondern ist hausgemacht, d.h. durch eine Bundesregierung mit bedingt, die Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung betreibt.

Auch viele Normalbürger nehmen die Armut im eigenen Land entweder nicht wahr oder nicht ernst genug, wofür mehrere Faktoren verantwortlich sind: Erstens ist das hiesige Armutsbild von absoluter Not und Elend in den Entwicklungsländern geprägt, was die Betreffenden daran hindert, analoge Erscheinungen „vor der eigenen Haustür“ auch nur zu erkennen, zumal Armut hier viel weniger spektakulär daherkommt. Zweitens glaubt man irrtümlich, Armut in Berlin oder Köln sei weniger problematisch als jene in Bombay (Mumbai) oder Kalkutta, sodass es sich nicht lohne, über das Problem zu reden. Dabei kann Armut hierzulande sogar erniedrigender, deprimierender und bedrückender sein, weil vor allem Kinder und Jugendliche in unserer Konsumgesellschaft einem stärkeren Druck von Seiten der Werbeindustrie wie auch ihrer Mitschüler ausgeliefert sind, durch das Tragen teurer Markenkleidung oder den Besitz immer neuer, möglichst hochwertiger Konsumgüter „mitzuhalten“. Empathie und Solidarität erfahren die von Armut betroffenen Kinder hingegen in einem geringeren Maße, als dies normalerweise dort der Fall ist, wo kaum jemand ein großes (Geld-)Vermögen besitzt. Ein weiterer Grund, warum Armut leicht „übersehen“ wird, liegt in den Versuchen begründet, die Schuld dafür den Betroffenen selbst in die Schuhe zu schieben, welche angeblich „faul“, „saufen“ oder „nicht mit Geld umgehen“ können. Man erwartet von den Armen im Grunde, dass sie sich nach der Münchhausen-Methode „am eigenen Schopf“ aus ihrer Lage befreien, und ignoriert, dass dies sinnvoller Angebote der Sozial-, Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik bedarf, die es immer weniger gibt. Mit der Armut und den Armen hat viertens kaum jemand gern zu tun, weil selbst der Umgang damit stigmatisiert und die Betroffenen nach eher negativen Erfahrungen selten zu denjenigen Menschen gehören, deren offenes Wesen ihnen Freunde und Sympathie einbringt. Fünftens haben viele Deutsche heimlich Angst, spätestens im Alter selbst zu verarmen, was sie veranlasst, das Problem zu verdrängen, wie man sich auch ungern mit dem irgendwann anstehenden eigenen Tod oder einer drohenden Operation bei schwerer Krankheit beschäftigt.

Nötig sind mehr Sensibilität gegenüber der Armut, die als Kardinalproblem unserer Wirtschafts- bzw. Gesellschaftsordnung erkannt werden muss, mehr Solidarität mit den davon Betroffenen, was die Rekonstruktion des Sozialstaates genauso einschließt wie eine andere Steuerpolitik zwecks seiner Finanzierung durch Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche, aber auch eine höhere Sozialmoral, die bis in die Mittelschicht hineinreichende Deprivations- bzw. Desintegrationstendenzen als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt begreift. Es bedarf einschneidender Reformen und entschlossener Umverteilungsmaßnahmen, um das Problem zu lösen. Dafür unerlässlich ist ein Paradigmenwechsel vom „schlanken“ zum interventionsfähigen und -bereiten Wohlfahrtsstaat.

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Literatur

Butterwegge, Christoph: Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung. Eine sozial- und steuerpolitische Halbzeitbilanz der Großen Koalition, Wiesbaden 2016

Butterwegge, Christoph/Lösch, Bettina/Ptak, Ralf: Kritik des Neoliberalismus, 3. Aufl. Wiesbaden 2016

Butterwegge, Christoph: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, 4. Aufl. Frankfurt am Main/New York 2016


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