07.07.2016

Vortrag: Zeit zu handeln: Warum wir eine offensive Armutspolitik brauchen

Von: Annelie Buntenbach
Annelie Buntenbach (DGB) Foto: Stephanie von Becker

Annelie Buntenbach (DGB) Foto: Stephanie von Becker

Es gilt das gesprochene Wort!

I.
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
Offensiv klingt immer gut. Nicht nur im Fußball. Nach vorn soll es gehen, klar - Aber was heißt offensive Armutspolitik konkret? Offensive Armutspolitik bedeutet für mich als erstes, dass wir die Missstände klar beim Namen nennen. Und es ist ein Missstand, wenn in einem der reichsten Länder der Welt das Ausmaß von Armut und sozialer Ungleichheit auf ein unerträgliches Maß gestiegen ist.
Armut und Armutsgefährdung sind keine Erscheinung, die einige wenige am Rande der Gesellschaft betrifft, sondern das ist ein massenhaftes Phänomen mitten in unserer Gesellschaft. Von Kindern, die in Hartz-IV-Armut hineingeboren werden und dort aufwachsen, bis zu Rentnern, die ihre Minirente durch Pfandflaschensammeln aufstocken müssen. Offensiv heißt als zweites, nicht auf Ablenkungsmanöver hereinzufallen und sich nicht in die Defensive drängen zu lassen. Die Diskussion um absolute Armut versus relative Armut frei nach dem Motto, wirkliche Armut gibt es nur in der Dritten Welt oder allenfalls bei Flüchtlingen, ist oft interessengeleitet und soll vom politischen Kernproblem ablenken. Und das besteht in der nach wie vor massiv ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen und darauf aufbauend auf ungleichen Teilhabemöglichkeiten. Ungleiche Teilhabe an Bildung, Gesundheitsversorgung, an sozialen wie politischen Partizipationsmöglichkeiten. Und offensiv bedeutet, sich nicht mit dem Versuch zufriedenzugeben, Chancengleichheit am Start herzustellen, sondern immer zweite und dritte Chancen etwa auf einen Bildungs- oder Berufsabschluss einzufordern. Und da von Chancen allein niemand leben kann, muss es immer auch um Verteilungsgerechtigkeit gehen.
Chancengleichheit, die zwar formal besteht, aber nicht mit realen Umsetzungsmöglichkeiten unterlegt ist, gewährleistet nicht, dass soziale Ungleichheit auf ein verträgliches Maß beschränkt bleibt. Armut darf kein verschämtes soziales Phänomen sein. Arme und von Armut bedrohte Menschen dürfen nicht in die Ecke gedrängt werden. Armut ist nichts, wofür man sich schämen muss. Armut ist immer individuell unterschiedlich in ihrer Entstehung und im subjektiven Erleben. Zugleich ist Armut politisch und ökonomisch ein systemisches Risiko unserer Art zu wirtschaften und zu leben. Die Verteilung der Einkommen erfolgt hier zunächst über den sog. Markt – der bekanntermaßen blind ist hinsichtlich des sozialen Ausgleichs. Deutschland liegt bei der Ungleichheit der Markteinkommen im internationalen Vergleich ganz weit vorne gleichauf mit den USA. Die anschließende staatliche Umverteilung über Steuern, Abgaben und Transferleistungen mindert zwar Ungleichheit und Armutsrisiko. Aber bei weitem nicht in dem nötigen Umfang, nicht zuverlässig genug und zudem mit abnehmender Wirkung in jüngerer Vergangenheit. Vor diesem Hintergrund heißt offensiv, an den zentralen Armutsursachen anzusetzen.
Offensiv bedeutet, eine vorbeugende Politik zu fordern und durchzusetzen, eine Politik, die verhindert, dass Menschen überhaupt in Armut abrutschen. Und eben nicht nachsorgend an den verschiedenen einzelnen Armutssymptomen herumzudoktern. Und offensiv bedeutet für mich, das Thema mit anderen – so wie hier auf dem Kongress – zu debattieren und möglichst zu gemeinsamen Vorschlägen bis hin zu themenbezogenen Bündnissen und gemeinsamem Handeln zu kommen. Die Gewerkschaften, Wohlfahrts- und Sozialverbände alleine werden jeweils schnell als Vertreter „nur“ ihrer eigenen Klientel wahrgenommen. Gemeinsam können wir es aber schaffen, das Thema Armut und soziale Ungleichheit als gesamtgesellschaftliches Problem darzustellen, das dringend einer Lösung bedarf.
Dazu sollte dieser Kongress ein Ausrufezeichen setzen.

II. Und warum ist eine offensive Armutspolitik notwendig?

Sie ist notwendig, weil Armut und Ungleichheit in Deutschland seit Jahrzehnten gestiegen sind und sich zuletzt auf hohem Niveau verfestigt haben. Mehr als jede und jeder Siebte gilt nach der offiziellen Sozialberichterstattung (Mikrozensus) als armutsgefährdet. Ungleichheit ist kein Naturgesetz und sie ist nicht von heute auf morgen entstanden. Dass sie sich verfestigt und zunimmt, ist wesentlich die Folge falscher politischer Entscheidungen, die im Ergebnis zu einer jahrelangen Umverteilung von unten nach oben geführt haben. Wirtschaftswachstum und sinkende Arbeitslosigkeit führen nicht automatisch zur Abnahme von Armut in der Gesellschaft. Das zeigt der Blick auf die Entwicklung seit 2006.
Während vorher die Armut mit steigender Arbeitslosigkeit erwartungsgemäß gestiegen ist, hat sich die Entwicklung danach entkoppelt. D.h., die Armutsgefährdung hat zugenommen, obwohl die Arbeitslosigkeit gesunken ist. Und dabei ist die Armutsgefährdungsquote seit 2006 noch um 1,5 Prozentpunkte gestiegen, während die Arbeitslosenquote um rund 4 Prozentpunkte gesunken ist.
Also: Ein Rückgang von Armut wird nicht automatisch mit einer besseren Arbeitsmarktsituation erreicht.
Die auf den ersten Blick insgesamt guten Arbeitsmarktdaten verdecken, dass wir einen gespaltenen Arbeitsmarkt haben.
Die verbesserte Arbeitsmarktlage kommt nicht allen zugute. Es sind die jüngeren kurzzeitig Arbeitslosen mit höheren Qualifikationen, die schnell wieder einen Job finden. Auf der anderen Seite stehen Ältere, geringer Qualifizierte, gesundheitlich Beeinträchtigte und generell Langzeitarbeitslose, die an den Rand gedrängt werden. Und das dauerhaft. Es ist eben nicht alles sozial, was Arbeit schafft, wie uns die Verfechter der Agenda 2010 einreden wollten. Die Arbeitsvermittlung in irgendeinen, oft prekären Job, der dann nach wenigen Monaten wieder beendet ist, lässt die Arbeitslosigkeit zwar statistisch sinken.
Im Kern wird aber vor allem die Drehtür zwischen prekärem Job, Arbeitslosigkeit und Aufstockung beschleunigt. Eine stabile Arbeitsmarktintegration sieht anders aus. Und: die Zunahme von Minijobs und anderen Kleinstjobs ist ebenfalls keine echte Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt auch mit Blick auf die Armutsvermeidung. Ende 2013 lagen laut Statistischem Bundesamt mehr als 3 Mio. Erwerbstätige mit ihrem Einkommen unterhalb der Armutsschwelle. Ein Viertel mehr als noch 2008. Auch die immer noch rund 1,2 Mio. Hartz-IV-Aufstocker zeigen, wie sehr Armut trotz Erwerbstätigkeit für viele zum traurigen Alltag geworden ist. Und da bin ich sehr froh darüber, dass jetzt der Mindestlohn endlich im Gesetzblatt steht, und nun auch zum ersten Mal erhöht wurde. Mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns haben vier Millionen Menschen in Deutschland mehr in der Tasche gehabt als vorher, ein großer Erfolg - aber das reicht nicht aus, Deutschland hat immer noch den größten Niedriglohnbereich in Europa, und denen müssen wir endlich effektiv eindämmen.
Anrede,
Eine Offensive in der Armutspolitik ist auch deshalb nötig, weil die Dauer von Armutserfahrungen zugenommen hat. Das musste schon der letzte Armutsbericht der Bundesregierung einräumen.
Und daran hat sich nichts geändert, wie ein Blick auf die Hartz-IV-Armut zeigt. So sind rund 3 Mio. der Hartz-IV-Empfänger bereits vier Jahre oder länger im Hilfebezug und müssen dauerhaft auf dem Niveau des Existenzminimums leben. Die Spaltung unserer Gesellschaft nimmt weiter zu. Trotz der aktuell insgesamt guten Arbeitsmarktlage. Im Ergebnis schrumpft die Mittelschicht. Laut DIW seit der Wiedervereinigung um mehr als 5 Prozentpunkte, während zugleich der Anteil der Einkommensreichen um 4 Prozentpunkte gestiegen ist. Erschwerend kommt hinzu: Die Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg haben abgenommen. Inzwischen ist der soziale Abstieg wahrscheinlicher als der Aufstieg in eine höhere Einkommensklasse. Die Aufwärtstaste im sozialen Aufzug klemmt und das schon seit Jahren.
Damit leidet das Gefühl, in einer Gesellschaft zu leben, in der es gerecht zugeht. 70% der Bevölkerung empfinden die wirtschaftlichen Verhältnisse als ungerecht. Fast ebenso viele sind überzeugt, dass die soziale Ungerechtigkeit in den letzten Jahren zugenommen hat. Hierauf gibt es solidarische Antworten, die auf die gemeinsame Veränderung ungerechter Verhältnisse abzielen - oder Reflexe von Spaltung und Konkurrenz, die von Rechtspopulisten ganz bewusst geschürt werden - und wo einem nationalen Aufbruch das Wort geredet wird, auf dem Rücken von Flüchtlingen und anderen Sündenböcken.
Gerade, wenn wir Spaltung und Rassismus mit Erfolg entgegentreten wollen, dürfen wir diese emotionale Lage nicht ignorieren, sondern müssen dieses Gefühl von Ungerechtigkeit in unsere politischen Strategien einbeziehen und für Solidarität statt Spaltung kämpfen!
Dabei geht es auch darum, die Rolle des Sozialstaats als gesellschaftlichen Kitt neu zu erklären und definieren. Der Sozialstaat muss nicht nur vor den zentralen Lebensrisiken schützen und im Falle einer Notlage ermöglichen, dass man aus ihr wieder herauskommen kann, der soziale Wiedereinstieg oder Aufstieg nicht verbaut ist. Dabei muss soziale Absicherung mehr sein als nur der Schutz vor blanker Armut. Die Menschen müssen das begründete Gefühl haben, für ihre Steuern und Beiträge einen entsprechenden Schutz zu erwerben. Ich will hier eine Lanze für die sozialen Sicherungssysteme brechen - ich glaube, sie sind erheblich besser als Ruf, allerdings haben sie zu ihrer Weiterentwicklung Reformen dringend nötig. Aber der Grundgedanke ist bestechend: die großen Lebensrisiken, Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Pflege, kann niemand allein schultern, es sei denn er hat ein Konto auf den Kaimaninseln. Aber für alle anderen gilt: das geht nur im Kollektiv, in der Solidarität der Sozialversicherungen. Letztlich gehören hier alle hinein, und die Leistungen müssen stimmen - sie müssen wirklich vor Armut schützen, dafür werden wir kämpfen müssen, das ist ein dickes Brett.
Aber dann ist Absicherung über die Sozialversicherungen ein erworbener Anspruch und muss mehr sein als nur eine notdürftige Basissicherung. Die nackte Existenzsicherung à la Hartz IV (ist sowieso zu niedrig, ich weiß!) oder eine bloße Basissicherung in den anderen Sozialversicherungszweigen schaffen keine Akzeptanz für den Sozialstaat. Wir brauchen dringend eine gerechtere Verteilung und einen Sozialstaat, auf den die Menschen auch bauen können, der für den notwendigen sozialen Ausgleich sorgt. Könnten sie hier hinein Vertrauen haben, gäbe es einen Ansatzpunkt weniger für die Hassparolen von AfD und Pegida. Auch insofern ist das hohe Maß an Ungleichheit eine Gefährdung für unser Gemeinwesen. Ich streite für eine Gesellschaft, in der es gerecht zugeht, in der der Sozialstaat funktioniert und an der alle auf Augenhöhe teilhaben können - eine gerechte, solidarische Gesellschaft, das hat einen hohen Stellenwert in sich und bedarf keiner weiteren funktionalen Begründung.
Trotzdem halte ich es für sinnvoll, eine Offensive in der Armutspolitik auch ökonomisch zu begründen.
Wenn nicht nur Piketty, sondern sogar Institutionen wie die OECD betonen, dass das auch im internationalen Vergleich hohe Maß an Ungleichheit in Deutschland wachstumshemmend ist, sollten wir dieses Argument aufgreifen. Es ist eben auch ökonomisch vernünftig, Einkommensungleichheiten zu verringern und durch höhere Konsumausgaben bei den unteren Einkommensgruppen Wachstum und Beschäftigung zu stärken. Laut DIW läge das BIP in Deutschland um ein Fünftel höher, wenn die Einkommensungleichheit allein zwischen 1990 und 2010 nicht so stark gestiegen wäre.
Genauso ist es auch ökonomisch vernünftig, mehr in die Bildung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen aus ärmeren Haushalten zu investieren, in allererster Linie natürlich im Interesse der Kinder und Jugendlichen selbst, aber auch, um in Zukunft ausreichend gut ausgebildete Fachkräfte zu haben. Wenn wir dies nicht tun, laufen wir Gefahr, dass sie zu den Armen und Abhängten von morgen oder übermorgen werden. Mit fatalen Folgen für sie, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, aber eben auch den dann entstehenden fiskalischen Folgekosten.

III. Was heißt offensive Armutspolitik für Gewerkschaften?

Der Begriff Armutspolitik führt schnell in die Irre, weil er das Missverständnis nahelegt, dass es „nur“ um Politik für einen kleinen, randständigen Teil der Gesellschaft geht. Auch wenn inzwischen rund jede und jeder Zehnte von Mindestsicherungsleistungen wie Hartz IV abhängig ist. Und: Wer will schon zu den Armen oder zu den von Armut Bedrohten gehören?
Worum es uns geht, ist: den Sozialstaat so auszugestalten, dass er im Bedarfsfall möglichst den Lebensstandard sichert, Freiheit von Existenzangst und wo möglich auch Abstiegsängsten, und gleichzeitig immer wieder Teilhabe- und Aufstiegsmöglichkeiten eröffnet. So gesehen ist eine offensive Armutspolitik eine Querschnittsaufgabe, die weit über den engeren Bereich von Sozial- und Arbeitspolitik hinausgeht. Aber hier hat sie ihren Ausgangspunkt, und von da aus gehend will ich einige Anforderungen skizzieren:
Annelie Buntenbach gibt ein Interview Foto Stephanie von BeckerIn der Arbeitspolitik müssen endlich die Konsequenzen aus der Erkenntnis gezogen werden, dass der Niedriglohnbereich nicht Teil der Lösung, wie es die Agenda 2010 verkündet hatte, sondern Teil des Problems ist. Nicht jede Arbeit ist sozial, sondern nur gute Arbeit, die anständig entlohnt wird und wo die Arbeitsbedingungen stimmen. Wir befinden uns in einer Aufholjagd für gute Arbeit.
Mit dem gesetzlichen Mindestlohn konnte ein erster Eckpfeiler eingerammt werden. Aber es bleibt noch viel zu tun, was die Zurückdrängung der deregulierten und prekären Arbeit angeht. Und da sind die Widerstände und gegenläufigen Interessen aus dem Arbeitgeberlager und Teilen der Politik stark, wie sich jetzt bei dem Gesetzgebungsverfahren zu Leiharbeit und Werkverträgen zeigt. Die Arbeitsmarktpolitik darf sich ebenfalls nur auf die Förderung von Guter Arbeit konzentrieren.
Der Druck und die Vermittlung in prekäre Jobs muss beendet werden. Die Schärfe bei den Zumutbarkeitsregeln und Sanktionen ist unzumutbar. Gerade mit Blick auf Langzeitarbeitslose müssen wir mehr in die Menschen investieren. Hier sollte es insbesondere um Qualifizierung in zukunftsträchtigen Berufsfeldern gehen. Gefragt ist eine vollwertige Berufsausbildung, die auch morgen und übermorgen noch eine echte Berufsperspektive bietet und keine Schmalspurqualifizierung als Einstieg in einen prekären Job. Wir wollen den Schutz der Arbeitslosenversicherung ausweiten, gerade mit Blick auf prekär Beschäftigte. Inzwischen rutscht jeder 4. Arbeitslose direkt nach dem Jobverlust in Hartz IV. Ein Anspruch auf Arbeitslosengeld soll auch bei kürzerer Vorversicherungszeit oder wenn diese über einen längeren Zeitraum verteilt ist, entstehen. Und wir wollen ein Mindestarbeitslosengeld, das verhindert, dass ALG-I-Empfänger auch noch zum Jobcenter müssen.
Jetzt kann man trefflich über Vorschläge wie das bedingungslose Grundeinkommen, bedarfsorientierte Grundsicherungen und anderes streiten. Und tun wir ja auch immer wieder, das ist auch gut so.
Aber jenseits davon bin ich davon überzeugt, dass es einen wirksamen Schutz vor Armut ohne Erwerbsarbeit auf absehbare Zeit nicht geben wird. Allein mit Transferleistungen lässt sich Armut nicht bekämpfen. D.h., wir müssen möglichst viele Menschen an der gesellschaftlich organisierten Arbeit beteiligen, bezahlte und unbezahlte Arbeit anders verteilen. Dazu muss dann eine Umverteilung über Transferleistungen kommen, um wirksam vor Armut zu schützen - und um mehr gegen die enorme Ungleichheit zu tun. Die Familienförderung z.B. gehört vom Kopf auf die Füße gestellt. So vergrößert sie vielfach noch die Ungleichheit statt sie zu verringern. Bisher ist es so, dass Spitzenverdiener über steuerliche Freibeträge bis zu 100 Euro im Monat pro Kind stärker gefördert werden als ein Normalverdiener, der nur Kindergeld erhält. Eine Reform des Familienlastenausgleichs - damit jedes Kind dem Staat gleich viel wert ist. Als weitere Säule schlagen wir einen Ausbau der Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur rund um Kitas und Schulen vor. Der Bedarf an Beratung, Betreuung und generell an guten sowie erreichbaren sozialen Infrastrukturleistungen wird immer größer. Und er besteht nicht nur bei armutsgefährdeten Menschen. Deshalb eignet sich ein Ausbau der sozialen Infrastruktur als diskriminierungsfreie Möglichkeit, Armut zu vermeiden. Dabei darf aber ein Ausbau der Infrastruktur keinesfalls gegen höhere Geldleistungen für Kinder und Familien ausgespielt werden. Neben dem angesprochenen Kindergeld halten wir höhere Kinderregelsätze für dringend notwendig. Die Regelsätze sind für alle zu niedrig – bei den Kindern zeigt sich am klarsten, wie wenig bedarfsdeckend sie sind. Das Bildungs- und Teilhabepaket ist so bürokratisch, dass die Leistungen die Kinder kaum erreichen. Ergänzend zur Anhebung der Kinderregelsätze schlagen wir vor, die Hartz IV vorgelagerten Sozialleistungen wie Kinderzuschlag, Wohngeld und Arbeitslosengeld I zu verbessern, um Armut und Hartz-IV-Bezug zu vermeiden. Mit diesem Paket von kinder- und elternbezogenen Leistungen glauben wir, dass sich Kinder- und Familienarmut wirksam vermeiden lässt. Auch beim Thema Rente gilt:
Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und anständige Löhne sind von zentraler Bedeutung auch für ein gutes Leben im Alter. Das reicht aber alleine nicht aus.
Zu tief sind die politischen Einschnitte der letzten 20 Jahre in die Leistungen der gesetzlichen Rente gewesen, insbesondere beim Absenken des Rentenniveaus. Deshalb macht der DGB die Rente zum Kampagnenthema für die kommende Bundestagswahl. Wir brauchen einen Kurswechsel in der Rentenpolitik. Der Sturzflug des gesetzlichen Rentenniveaus muss gestoppt werden. Die gesetzliche Rentenversicherung muss wieder gestärkt werden. Langfristig muss das Rentenniveau deutlich steigen.
Die Politik muss wieder zum Konsens zurückkehren, dass nach Jahrzehnten der Beitragszahlung die Rente ein Leben in Würde im Alter sicherstellt. Dafür brauchen wir gesetzliche Änderungen und keine Rentenpolitik, die nur auf die Höhe des Beitragssatzes fixiert ist, aber das Sicherungsniveau außeracht lässt. Notwendig sind darüber hinaus die weitere Maßnahmen, wie die Fortführung der Rente nach Mindestentgeltpunkten und die Abschaffung der Abschläge bei der Erwerbsminderungsrente.
So lange das Rentenniveau weiter sinkt wird die Zahl bedürftiger Altersrentner auch künftig weiter steigen. Und was daran generationengerecht sein soll, wenn die Jungen länger arbeiten sollen, um dann eine Rente unter Grundsicherungsniveau zu bekommen, hat mir noch keiner erklären können.
Deshalb müssen wir jetzt bei der Rente umsteuern!
Auch in der Kranken- und Pflegeversicherung muss es darum gehen, dass die Versicherungsleistungen mehr als nur eine Grundabsicherung bewirken, die dann durch private Vorsorge ergänzt werden muss.
Dieses Modell funktioniert nicht zur verlässlichen Absicherung. Sondern es treibt die Gesellschaft auseinander, je nachdem ob man sich zusätzlichen Schutz leisten kann oder eben nicht. Die Riesterrente lässt grüßen. Die sozialen Sicherungssysteme zu privatisieren, ganz oder auch nur teilweise, ist der falsche Weg! Ich will jetzt an dieser Stelle gar nicht mehr auf die soziale Selektion im Bildungswesen oder die Versäumnisse in der Wohnungs- und Städtebaupolitik eingehen, die im Ergebnis zu einer sozialräumlichen Segregation geführt haben. Das würde den Rahmen für heute sicher sprengen - aber ich hoffe ich habe deutlich machen können, dass Reformbedarf quer durch zentrale Politikfelder besteht.
Jedenfalls dann, wenn man es ernst meint mit einer offensiven und präventiven Armutspolitik.

IV. Schluss

Anrede,
Klar ist, die angesprochenen Maßnahmen gegen Armut kosten Geld. Aber: Armut und hohe Ungleichheit einfach hinnehmen kostet letztlich mehr, für die Menschen, für die Gesellschaft und auch finanziell.
Und wir alle wissen, es fehlt in unserer Gesellschaft nicht an Geld, nur ist der private Reichtum in der Hand Weniger konzentriert. Wie hieß es schon 1997 in dem gemeinsamen Sozialwort der Kirchen: „Umverteilung ist gegenwärtig häufig Umverteilung des Mangels, weil der Überfluss auf der anderen Seite geschont wird.“ D.h., mehr Gleichheit und Gerechtigkeit wird ohne Umverteilung von oben nach unten nicht zu erreichen sein. Deshalb sind die Themen Vermögenssteuer, Spitzensteuersatz, Erbschaftssteuer und Bekämpfung von Steuerhinterziehung – auch von legaler oder illegaler Steuerverkürzung - notwendiger Bestandteil einer Armutsvermeidungspolitik, die ihren Namen verdient.
Im Zuge der Herausforderungen bei der Integration von Flüchtlingen sind die eine Reihe von armutsrelevanten Probleme, denen wir uns stellen müssen, offensichtlicher geworden. Sie sind - das will ich ausdrücklich betonen - nicht entstanden durch geflüchtete Menschen. Sondern es ist noch deutlicher sichtbar geworden, wie sehr die öffentliche Infrastruktur in den letzten Jahren auf Verschleiß gefahren wurde. Wie wenig etwa in sozialen Wohnungsbau, Bildung und Arbeitsmarktpolitik investiert worden ist.
Dass diese Probleme jetzt so offenkundig geworden sind, müssen wir nutzen für einen Neustart der gesellschaftlichen Debatte. Wie wollen wir als Gesellschaft eigentlich leben?
Wieviel Spaltung, Ausgrenzung, Konkurrenz soll uns beherrschen oder wollen wir gemeinsam Solidarität neu organisieren - und wie kann das praktisch gelingen? Wie soll den zentralen Armutsrisiken vorgebeugt werden und wie soll dies finanziert werden?
Zu diesen und anderen Fragen kann vielleicht bereits dieser Kongress wichtige Impulse geben.
Was auf keinen Fall passieren darf, ist eine Neiddiskussion zwischen denen, die wenig haben und denen, die noch weniger haben. Da fand ich die Geschichte, die ich in einem der letzten A-Infos der Koordinierungsstelle gewerkschaftliche Arbeitslosenarbeit gelesen habe, einfach schlagend:
20 Kekse liegen auf dem Tisch. Drumherum sitzen ein Reicher, ein Arbeitsloser und ein Geflüchteter.
Der Reiche nimmt sich 19 von den 20 Keksen und sagt zu dem Arbeitslosen: Jetzt pass bloß auf, dass dir der Flüchtling nicht den letzten Keks wegnimmt. Rechtspopulisten tun hier in Deutschland, in Großbritannien und in zu vielen anderen Orten der Welt alles dafür, den Verteilungskampf in die unteren Etagen unserer Gesellschaft zu verlagern, entlang der Linie von Ethnie und Herkunft.
Dem müssen wir mit allem Nachdruck entgegentreten und uns für Solidarität und Teilhabe von allen an dieser Gesellschaft auf Augenhöhe engagieren, und zwar gemeinsam, hier auf dem Kongress und auch in Zukunft.
Wir sollten jetzt die Chance nutzen, einen offensiven Diskurs um die Armuts- und Verteilungsfragen zu führen.
Ich bin gespannt, was auf die Diskussionen und Ergebnisse dieses Kongresses.

Hier finden Sie den Vortrag von Annelie Buntenbach zum Download.


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